LASST DIE SYNAPSEN TANZEN
Die richtige Musik für Trauerfeiern
von Eric Wrede
„Ist es nicht seltsam, dass Schafsdärme
die Seele aus eines Menschen Leibe
ziehen können?”
Was der alte Skakespeare in „Viel Lärm um nichts“ schon ahnte, ist mittlerweile natürlich von allen Seiten wissenschaftlich belegt. Musik ist eine unglaubliche Macht.
Sie kann dafür sorgen, dass wir uns unglaublich fürchten, dass wir uns auf der anderen Seite geradezu unsterblich fühlen oder uns die Seele aus dem Leib weinen.
Musik schafft etwas, dass nur wenige Signale aus unserer Umwelt vermögen. Ihre Wirkung dringt tief in die ältesten Bereiche unseres Gehirns vor. In diesen Bereichen ruft das Erleben von Musik körperliche Reaktionen hervor. Wenn Bilder dazu noch mit Musik untermalt sind, dann wirkt Musik als Katalysator. Sie verstärkt das Wahrgenommene in eine Richtung. Und zwar mehr, als es nur Musik oder nur Bilder schaffen würden. Es ist faszinierend. Die Summe ist mehr als die einzelne Teile.
Aber so klar uns das alles erscheint, weil wir diese Funktion jeden Tag erleben, so schwer ist diese Systematik zu ergreifen. Welche Musik ruft welche Emotionen hervor? Warum gibt es Musik, die uns aufs Tiefste berührt, und andere Musik, die uns fast körperlich abstößt.
Musik entfaltet ihre Wirkung auf verschiedenen Ebenen. Zuallererst greift Musik, vor allem uns bekannte Stücke, in unser Belohnungssystem ein. Wir schütten Dopamin aus, vor allem wenn Musik in den von uns erwarteten Bahnen verläuft. Wenn das Gitarrensolo an der Stelle kommt, wo wir es schon immer kannten, oder das jahrelange Hören von bestimmter Musik uns beigebracht hat, was an welcher Stelle zu erfolgen hat. Intro-Strophe-Bridge-Refrain-Strophe-Bridge-Refrain-Zwischenspiel/Solo-Strophe-Bridge-Refrain-Refrain. Zudem bietet unser Musikkonsum vor allem Identifikationspotenzial. Wir grenzen uns über ihn von anderen, gerne unseren Eltern, ab und verbinden uns im Musikgeschmack mit Menschen, die wir besonders mögen. Aber jegliche Musik hat ihre sehr berechenbaren Regeln.
Es gibt Menschen mit Behinderungen, die eine Gabe entwickelt haben. Sie sind in der Lage, quasi jedes Schlagerlied mitzusingen, weil die Komposition, vor allem aber der Text immer wieder den gleichen Schemata folgen. Und in der Erfahrung, dass sich Schmerz eben wunderbar auf Herz reimt, schüttet der Körper eine Belohnung in Form von Dopamin aus.
Doch das trifft natürlich nicht nur auf Schlager zu, quasi jede weltweit existierende Form von Musik wird so konsumiert. Gelernte Muster belohnen uns beim Hören. Ob die Muster nun in lauter Gitarrenmusik, atonaler Jazzmusik oder Schlager liegen. Wir mögen, was wir kennen. Und wir kennen, was wir in emotionalen Momenten erlebt haben. Vor allem in der Pubertät entwickelt sich unser Musikgeschmack. Was läuft beim ersten Kuss, welche Musik hört der coole Typ, den ich mag. Eine Melange aus all diesem legt die Basis für das, was wir später mögen und in unserem Gehirn zu einer größtmöglichen Belohnung beim Hören führt.
Aber was zum Teufel hat das alles mit Musik auf Trauerfeiern zu tun und vor allem mit der richtigen Musikauswahl für diese? Ne ganze Menge natürlich.
„Is this the real life? Is this just fantasy?”
Nicht, dass ich jemals sonderlich viel für Queen übrig hatte, man möge es mir mit unwissender Jugend entschuldigen. Aber wenn dieses Lied in irgendeinem Radio dieser Welt erklingt, muss ich raus oder schalte auf den nächsten Sender. Daran konnte weder das Queen Revival dank „Bohemian Rhapsody“ nichts ändern noch andere spätere Versuche, mich dieser Band anzunähern.
Aber maßgeblich für die Ablehnung vor allem dieses einen Liedes ist eben der Moment, in dem ich es selber das letzte Mal bewusst gehört habe. Mein Freund Marc war verstorben und gleichzeitig gab es für ihn eine der ersten Beerdigungen, die ich als Bestatter je organisieren musste.
Marc war ein Tanzbär. Immer etwas mehr Bauch als schick, immer einen Rockerring zu viel an den Fingern. Aber bei Queen kam aus diesem Körper eine Eleganz, die zumindest ich so nie erwartet hätte. Nachdem Marc an einem zurückgekehrten Krebs verstorben war, organisierten wir in Berlin eine große Abschiedsfeier. Es sollte bunt werden, es sollte laut werden. Marc eben. Da Marc ein paar Jahre älter war, schien diese gigantomanische Rockkapelle um Brian May und Freddy Mercury mehr als passend zu sein, die Trauerfeier zu untermalen, vor allem, weil wir ihn alle so oft haben dazu tanzen sehen.
Der Tag der Abschiedsfeier. Es wurde geredet, es wurde gesungen, Marcs Sarg wurde bemalt, Namen durften getanzt werden und am Ende stand da eben Queen. „Bohemian Rhapsody“ ganz laut.
In einem der verletzlichsten Momente meines jungen Lebens läuft dieses Lied: Das Herz, das Stammhirn und alle Tränendrüsen so weit offen, wie sie nur können, und genau so tief hat sich der mehrstämmige Gesang in meinen Körper eingebrannt:
„Thunderbolts and lightning, very, very frightening me
Galileo, Galileo
Galileo, Galileo
Galileo, Figaro – magnificoo“
Wie ich jeden einzelnen Buchstaben dieses Textes hasse, jede Note ist mir zu wider. Und das Traurige, Queen kann dafür rein gar nichts. Natürlich nicht.
Ich musste eine der obersten Regeln beim Aussuchen der Musik für eine Abschiedsfeier am eigenen Körper erlernen: Nimm nie, wirklich nie Musik, die dich irgendwo überraschend treffen kann. Die plötzlich im Radio läuft oder unvermittelt im Hintergrund einer Serie auf Netflix läuft. Natürlich kann man das nicht zu 100% kontrollieren. Aber der erste Nummer 1 Hit einer weltbekannten Rockkapelle, der irgendwann auch noch als radiotauglich eingestuft wurde, bad idea! Very bad idea. Dem Song kann man nicht ausweichen.
Ausweichen ist vielleicht das falsche Wort. Wir müssen uns bei der ganzen Thematik einmal kurz anschauen, wie Trauer funktioniert oder bestenfalls funktionieren soll. Trauer ist ganz am Anfang nach einem Verlust gerne ein unsägliches Monster. Es ist irgendwie immer da. Ob du gerade das erste Mal wieder lachst oder ob du für fünf Minuten mal etwas anderes machst, als an den Menschen zu denken, den du verloren hast. Kaum passiert das, kommt dieses Monster Trauer wieder um die Ecke. Aber mit der Zeit sollte man lernen, dass Trauer kein Monster ist, sondern ein Tier, dass man trainieren kann. Je länger man es kennt, um so besser sind wir in der Lage zu entscheiden, wann und wie es uns besuchen kann. Im besten Falle kontrollieren wir irgendwann die Trauer und die Trauer nicht mehr uns.
Trauer wird uns zwar nie ganz verlassen, sie wird irgendwann zu einem Bestandteil unsere Lebens. Wir lernen mit ihr zu leben. Aber wie soll man mit irgendetwas leben, dass einen immer wieder überraschend begegnen kann wie einem Lied.
Ehrlicherweise rate ich mittlerweile: Freundeskreise, sucht nach Musik, die euch nicht ungeplant über den Weg laufen kann. Schaut nach Stücken, die überraschen, schaut nach Stücken, die ihr bewusst anmachen müsst, um sie zu hören. Schaut nach Musik, die austauschbar ist. Was erst einmal schwerer klingt, als gedacht, ist zumeist ganz einfach. Vor allem, wenn der Kreis um den verstorbenen Menschen und der Mensch selber sich für Musik interessierte. Wenn schon Queen, dann sucht nach einem Stück, das nicht auf jeder Queen-Playlist ganz oben steht. Jeder echte Fan wird 20 Lieder abseits der bekannten Hits kennen, die großartig und emotional sind. Und je tiefer man eintaucht, um so weniger austauschbar wird die Gestaltung der Abschiedsfeier selbst.
Die ganz schlauen Leser sagen jetzt natürlich, hat er nicht ganz oben gesagt, wir wollen Bekanntes hören, weil das dazu führt, dass wir uns emotional aufgehoben fühlen? Ja, richtig, aber genau das ist die Kunst der perfekten musikalischen Begleitung für eine Abschiedsfeier.
Erwartbar, aber nicht berechenbar.
Speziell, aber doch für die Gäste hörbar.
Manchmal ist ein unbekanntes Cover besser als die bekannte Version.
Als Letztes etwas, das fast in Vergessenheit geraten ist: gemeinsames Singen. Es ist nicht reproduzierbar, schon gar nicht auf Knopfdruck und hat in meinen Jahren als Bestatter zu den schönsten Momenten auf Abschiedsfeiern geführt. Eine der ältesten Kulturtechniken der Welt. Kaum etwas vereint Gruppen mehr und gibt uns das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Schutz. Und „Let it be“ von Beatles bekommen die meisten von uns auch ohne Textblatt hin.
Songs, die ich auf Trauerfeiern liebengelernt habe:
John Cale – „I Keep A Close Watch”
Jimmy Scott – „Nothing Compares 2 U“
Bob Dylan – „Make You Feel My Love“
My morning Jacket – „Rocket Man“
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in der drunter+drüber-Printausgabe #14 „Musik und Tod” (Mai 2022).
Über den Autor: Eric Wrede ist Bestatter und Trauerbegleiter aus Berlin und Leipzig. Gründer von lebensnah-Bestattungen und kindertrauer-berlin.de
Alle Beiträge von Eric Wrede gibt es hier.
Foto: Fabian Schellhorn
