TRAUERN AM ARSCH DER WELT

von Eric Wrede
Ach, wie war das Leben früher schön. Helmut Kohl regierte das Land mit einer Art väterlicher Fürsorge, die Tagesschau lieferte uns zuverlässig die Nachrichten und rechts von der CSU gab es nur ein paar versprengte Exoten.
Noch früher war es sogar noch idyllischer. Wir alle lebten auf demselben Fleckchen Erde, in einem Dorf oder einer Gegend, wo der Gedanke, aus reiner Neugier mal eine Reise zu unternehmen, ein Privileg der ganz wenigen war. Doch ich muss zugeben, hätte ich damals mit einer entzündeten Blinddarmentzündung zu kämpfen gehabt, wäre ich wahrscheinlich einfach gestorben. Andererseits – in den heutigen Kliniken, wo man leicht mal mit dem Typ für die Haartransplantation verwechselt wird, könnte mir das vielleicht auch passieren: „Mandy, ist das der lange Typ für die Haartransplantation?“
Heute leben wir eben nicht nur in einem Land, sondern sind über die ganze Welt verstreut. Sicher, der Oberklugscheißer in der letzten Reihe könnte jetzt anmerken: „Seit Kolumbus haben sich Familien über Kontinente hinweg verteilt.“ Stimmt. Aber heute sind wir quasi in Echtzeit verbunden – und doch irgendwie nie wirklich da. Während wir in Kanada festhängen und der beste Freund zuhause an Krebs stirbt, bleibt die Frage: Wann ist der richtige Zeitpunkt „rüberzukommen“? Kanada kann auch München sein und der Freund in Flensburg. Die Entfernung bleibt – und das Gefühl, dass man jederzeit losfahren, da sein und sich verabschieden könnte.
Doch was tun, wenn man nicht „jederzeit“ kann? Weil man eben das Geld nicht hat oder schlicht zu weit weg ist? Kurz mal zurückerinnert an die Corona-Zeit: Wie viele Menschen traumatisiert waren, weil sie ihre Liebsten nicht begleiten konnten, weil sie allein in Heimen und Krankenhäusern starben. Ein Albtraum, der sich tief eingebrannt hat.
Zum Glück bin ich hier der Kolumnist und muss nicht auf alles eine Antwort haben. Aber eine Geschichte hat mich in dieser Hinsicht besonders bewegt. Ein alter Bekannter von mir, Dennis Kastrup, stand vor dieser Situation. Als er von der Krankheit seines engen Freundes Frank erfuhr, begann er, all ihre Gespräche aufzuzeichnen. Woche für Woche sprachen sie – über Franks anfängliche Hoffnung und die langsam einsickernde Erkenntnis, dass er sterben würde. Es entstand eine Nähe, die Dennis irgendwie für sich selbst festhielt, aber auch für Franks Sohn, Enno. Herausgekommen ist ein tief berührender Beitrag für den NDR: „Lieber Enno!“ (Hört euch das an, wirklich).
Klar, Dennis ist Journalist, aber die Technik, um solche Gespräche festzuhalten, haben wir heute alle in der Tasche. Nähe kann auch über tausende Kilometer hinweg entstehen. Trauer kann es auch.
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in der drunter+drüber-Printausgabe #19 „Heimat und Tod” (Nov 2024).
Über den Autor: Eric Wrede ist Bestatter und Trauerbegleiter aus Berlin und Leipzig. Gründer von lebensnah-Bestattungen und kindertrauer-berlin.de
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Foto: Fabian Schellhorn
