INTERVIEW MIT TINA HENZE, Sternenkinder Dessau e. V., und ihrer Tochter
von Kristin Rogge
Kristin: Tina, mögen Sie uns erzählen, was Sie erlebt haben? Was ist damals geschehen und wie erinnern Sie sich heute an diese Zeit?
Tina: Ich war 2017 das erste Mal schwanger und wie bestimmt viele Schwangere beim ersten Kind habe ich mir gar keine großen Gedanken gemacht und auch nie daran gedacht, dass irgendetwas passieren oder schiefgehen könnte.
Ungefähr ab dem sechsten Monat hatte ich ein seltsames Gefühl, konnte dieses aber gar nicht näher beschreiben. Ich hatte große Sorge, dass unsere Tochter (wir wussten bereits, dass wir ein Mädchen bekommen würden) früher – also zu früh – zur Welt kommen wird. Warum ich diese Sorge hatte, kann ich nicht sagen, da es schon damals keine Anzeichen dafür gab.
Alle Untersuchungen waren ohne Auffälligkeiten und ich war, so könnte man es sagen, eine „ganz normale Schwangere“.
Als ich die 32. Schwangerschaftswoche erreicht hatte, überkam mich eines Abends ein sehr seltsames Gefühl und ich fühlte mich nicht gut. Unsere Tochter hat sich weiterhin in meinem Bauch bewegt und ich schob mein Unwohlsein auf die fortschreitende Schwangerschaft. Trotzdem entschied ich mich am nächsten Tag, meine damalige Frauenärztin aufzusuchen.
An dem Morgen musste ich längere Zeit warten, bevor mich die Schwester an das CTG anschloss. Rückblickend weiß ich, dass sie schon da keine Herztöne mehr finden konnten. Realisieren und verstehen konnte ich dies in meiner Unwissenheit jedoch nicht. Die Schwester brachte mich zur Ärztin und der Ultraschall zeigte es klar und deutlich – unsere Tochter war in meinem Bauch gestorben. In diesem Moment ist alles in mir zerbrochen und mein Körper und auch mein Verstand gingen sofort in eine Art Notbetrieb. Heute weiß ich, dass ich komplett unter Schock stand.
Mit meinem Mann bin ich dann in unser örtliches Krankenhaus gefahren und hatte das große Glück, in meinem Fall auf ein kompetentes und einfühlsames Team zu stoßen, das uns in den nächsten Tagen und später während der Geburt unserer großen Tochter medizinisch sehr gut begleitet hat.
Unsere große Tochter Amelie ist dann an einem Tag im Januar 2018 still zur Welt gekommen.
Kristin: Wie haben Sie sich in dieser Ausnahmesituation begleitet und unterstützt gefühlt? Gab es Menschen, Strukturen oder Orte, die Ihnen Halt gaben? Oder auch Momente, in denen Sie sich allein gelassen fühlten?
Tina: Rückblickend habe ich mich in der Situation nicht ausreichend begleitet gefühlt. Das Klinikpersonal mit Ärzten, Hebammen und Schwestern hat ihr möglichstes getan, war aber doch auch im Klinikalltag stark eingebunden.
Auch außerhalb der Klinik fehlte es mir persönlich an Unterstützung. Vielleicht hat sie es damals schon gegeben, aber alle Stellen, an die ich herangetreten bin, waren mit der Situation komplett überfordert und auch organisatorische Hinweise gab es nicht. Wie geht es jetzt weiter? Muss ich zur Arbeit oder habe ich Mutterschutz? Wie funktioniert jetzt die Beerdigung? Alles Fragen, die auf mich und uns eingestürzt und uns nicht beantwortet worden sind.
Mein größter Halt in dieser schweren Zeit war mein Mann, aber auch er war – und ist – betroffen und benötigte Halt. In diesem Moment haben uns Strukturen und Leitplanken komplett gefehlt.
Kristin: Gab es etwas, das Ihnen in Ihrer Trauer besonders geholfen hat? Etwas, das Sie im Nachhinein als heilsam oder tröstlich empfunden haben?
Tina: Ich habe in der ersten Zeit der Trauer sehr viel Zeit mit mir verbracht. Ruhe ist für mich immer sehr heilsam und ich habe versucht, diese Phase für mich zu nutzen. Viel Zeit habe ich außerdem im Friedwald verbracht, in dem unsere Tochter beigesetzt ist. Noch heute ist dieser Ort für mich wunderschön.
Ich habe viel Zeit mit Yoga und anderen Entspannungsübungen verbracht und den Mutterschutz, der mir damals zugestanden hat, komplett genutzt, um ein Stück zu heilen.
Jedoch hat mir immer der Austausch gefehlt oder ein Ort, an dem ich alles sagen kann, ohne mich rechtfertigen zu müssen, warum ich so fühle, wie ich in dem Moment gefühlt habe.
Kristin: Wie kam es zur Gründung Ihrer Initiative „Sternenkinder Dessau“? Gab es einen konkreten Auslöser, einen Impuls – oder war es ein schrittweiser Prozess?
Tina: Nach der Geburt unserer kleinen Tochter, also unseres Regenbogenkindes, habe ich trotzdem gespürt, dass mir noch etwas fehlt, dass ich noch etwas aufarbeiten und mich mit anderen Betroffenen austauschen möchte. Das kam aber nicht plötzlich, sondern war ein Prozess, der sich über ein Jahr nach der Geburt unserer kleinen Tochter gezogen hat.
Einen Gesprächskreis zum Thema Sternenkinder gab es in unserer Region und auch im näheren Umkreis noch nicht. Also habe ich den Entschluss gefasst, diesen Gesprächskreis selbst zu gründen, und das war dann im März 2020.
Mit unserer Vereinsgründung im Mai 2022 sind wir dann einen nächsten großen Schritt gegangen. Die Gründung unseres Vereins hat uns viel mehr Möglichkeiten gebracht, Sternenkindeltern zu unterstützen und aktiv zu begleiten.
Kristin: Sind Sie bei Ihrer Arbeit auf offene Türen gestoßen – oder gab es auch Gegenwind? Wie wurde Ihre Idee aufgenommen? Mussten Sie viel Überzeugungsarbeit leisten?
Tina: Am Anfang war es tatsächlich ein Weg voller Gespräche, Aufklärungsarbeit und auch einiger Widerstände. Viele Menschen wussten gar nicht, wie groß der Bedarf ist, und das Thema Sternenkinder war oft mit Unsicherheit oder gar Tabus belegt.
Heute erfahren wir als Verein viel Unterstützung – von betroffenen Familien, von Ärzten, Hebammen, aber auch von der Öffentlichkeit. Das motiviert mich sehr weiterzumachen. Und trotzdem leisten wir weiterhin viel Öffentlichkeitsarbeit und sind stets dabei, in den Austausch mit dem Netzwerk vor Ort zu gehen. Dort, wo die Frauen mit den Diagnosen konfrontiert werden, bei den Frauenärzten, Hebammen und Kliniken. Hier brauchen wir eine enge Zusammenarbeit, damit unser Angebot so niedrigschwellig wie möglich ist.
Manche denken auch heute noch, dass wir „nur“ über eine Betroffenenkompetenz verfügen, das ist aber seit langer Zeit schon nicht mehr so. Alle unsere Akutbegleiter sind ausgebildete Trauerbegleiter und wir besuchen Weiterbildungen und führen Supervisionen durch.
Wir haben, – bis auf wenige Ausnahmen – keine medizinische Ausbildung und wollen dafür auch keine Experten sein, dafür sind die Ärzte, Hebammen und Schwestern vor Ort für die Eltern da. Aber wir sind auf unserem Gebiet Experten und wir sind überzeugt, diese ehrenamtliche Arbeit sehr gut zu leisten.
Kristin: Inzwischen rückt das Thema Sternenkinder immer mehr ins öffentliche Bewusstsein. Spüren Sie das auch? Hat sich in den vergangenen Jahren gesellschaftlich dahingehend etwas verändert?
Tina: Ja, das spüre ich sehr deutlich. Als Amelie 2018 gestorben ist, hatte ich das Gefühl, in einer Welt voller Sprachlosigkeit zu stehen. Viele Menschen wussten nicht, wie sie reagieren sollten, und ich fühlte mich dadurch oft sehr allein. Heute merke ich, dass sich das langsam ändert. Immer mehr Eltern trauen sich, offen von ihrem Sternenkind zu erzählen – in den sozialen Medien, in Büchern, in Interviews. Dadurch wird das Thema sichtbar und die Scham oder das Tabu, das lange darüber lag, verliert Stück für Stück an Gewicht. Das macht es für betroffene Familien leichter, ihren Schmerz nicht zu verstecken. Natürlich gibt es noch viel Aufklärungsarbeit, aber es bewegt sich etwas – und genau dafür lohnt sich unser Engagement im Verein.
Kristin: Sie haben nach dem Verlust Ihrer Tochter noch ein weiteres Kind bekommen. Wie gehen Sie als Familie heute mit der Erinnerung an Ihr verstorbenes Kind um? Was geben Sie Ihrer Tochter mit auf den Weg?
Tina: Amelie ist für uns ein festes Familienmitglied – auch wenn sie nicht sichtbar an unserer Seite ist. Wir versuchen, sie liebevoll in unseren Alltag einzubinden. Es gibt Bilder von ihr, eine Kerze, die wir an besonderen Tagen anzünden, und wir erzählen kleine Geschichten: Wie sehr wir uns auf sie gefreut haben, wie sie Teil unserer Familie bleibt. Für unsere lebende Tochter ist es wichtig zu spüren, dass ihre Schwester zwar nicht bei uns aufwächst, aber trotzdem eine Rolle in unserem Leben spielt. Ich möchte ihr mitgeben, dass Liebe nicht
endet, wenn ein Mensch stirbt. Dass wir auch traurige Gefühle annehmen dürfen und dass Trauer genauso zum Leben gehört wie Freude. Diese Haltung soll sie stärken, auch in ihrem eigenen Leben offen mit Gefühlen umzugehen.
Kristin: Wie präsent ist das verstorbene Geschwisterkind im Alltag Ihrer Tochter? Gibt es Rituale, Gespräche, kleine Zeichen – oder ist es ein leises Dabeisein?
Tina: Beides. Es gibt stille Momente, in denen Amelie wie selbstverständlich „dabei“ ist – zum Beispiel wenn wir abends in die Sterne schauen und wir dann den hellsten Stern sehen. Unsere kleine Tochter sagt dann oft ganz von sich aus: „Da ist Amelie. Gute Nacht, Amelie.“ Es sind kleine, aber kostbare Augenblicke, die uns zeigen, dass die Verbindung auch für sie lebendig ist. Und es gibt bewusste Rituale: Wir besuchen als Familie den Friedwald mit ihrem Sternenkinderbaum und zu ihrem Geburtstag gibt es immer einen besonderen Moment für sie. Unsere Tochter wächst so ganz natürlich mit dem Bewusstsein auf, dass sie eine Schwester hat. Für uns ist es wichtig, dass diese Erinnerung nicht schwer ist, sondern liebevoll.
Kristin: Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Tochter das versteht – oder ist das für sie eher abstrakt? Wie erleben Sie ihre kindliche Perspektive auf das Thema Tod und Verlust?
Tina: Kinder haben oft einen viel natürlicheren Zugang zu Themen wie Tod und Verlust, als wir Erwachsenen es erwarten. Unsere Tochter versteht, dass Amelie nicht hier ist, aber trotzdem „dazugehört“. Für sie ist das gar nicht kompliziert – sie akzeptiert es auf ihre eigene kindliche Weise.
Natürlich wird sich ihr Verständnis, wenn sie größer wird, verändern, aber ich habe den Eindruck, dass sie durch unsere Offenheit eine sehr gesunde Haltung dazu entwickelt. Sie erlebt: Wir dürfen traurig sein, wir dürfen erinnern – aber wir dürfen auch lachen.
Kristin: Wenn Sie anderen Eltern in ähnlichen Situationen einen Rat geben könnten – was wäre das? Was hätten Sie sich selbst damals gewünscht? Und was möchten Sie anderen mitgeben?
Tina: Ich hätte mir damals gewünscht, dass mehr Menschen mich einfach nach unserer Tochter fragen und zuhören. Das ist auch mein wichtigster Rat: Sucht euch Menschen, die wirklich da sind, die eure Geschichte aushalten können. Und traut euch, euren eigenen Weg zu gehen. Jeder trauert anders und es gibt kein richtig oder falsch. Der Schmerz wird bleiben, aber er verändert sich, er wird tragbarer. Und gleichzeitig bleibt die Liebe zu eurem Kind für immer. Diese Liebe darf sichtbar sein – in Ritualen, in Worten, in Erinnerungen. Sie ist ein Schatz, den niemand nehmen kann.
Interview mit Tinas kleiner Tochter
Kristin: Hallo! Schön, dass Du mit uns sprichst. Magst Du uns erzählen: Hast Du eine Schwester oder einen Bruder? Wie heißt sie oder er? Wie sprecht ihr in Deiner Familie über sie oder ihn?
Tochter von Tina: Ja, ich habe eine Schwester, sie heißt Amelie. Sie gehört zwar zu unserer Familie, aber sie ist nicht mehr bei mir. Amelie ist ein Sternenkind. Sie wohnt bei den Sternen.
Wir reden oft über sie, Mama und Papa erzählen mir von ihr und wir schauen gemeinsam das Bild an, das bei uns im Wohnzimmer steht.
Kristin: Deine große Schwester ist gestorben, bevor Du geboren wurdest. Denkst Du manchmal an sie? Gibt es etwas, das Dich mit ihr verbindet?
Tochter von Tina: Ja ich denke an sie und ich vermisse sie auch, denn sie ist ja meine Schwester. Manchmal male ich auch Bilder, auf denen sie dabei ist oder ich spreche mit ihr.
Kristin: Gibt es Dinge im Alltag, bei denen Du an sie denkst? Zum Beispiel ein Bild, ein Ort, ein Tag oder ein kleines Ritual?
Tochter von Tina: An ihren Baum im Wald, es ist ihr Baum und sie hat Tiere als Freunde.
Wenn ich einen Stern im Dunkeln am Himmel sehe, – der, der am hellsten leuchtet – dann weiß ich, sie ist da. Dann sage ich „Hallo, Amelie“ und winke.
Kristin: Wie fühlt es sich für Dich an, eine kleine Schwester zu sein – obwohl Du Deine große Schwester nie kennenlernen konntest?
Tochter von Tina: Manchmal bin ich traurig, weil ich mit ihr nicht spielen kann. Aber es ist auch schön, weil ich weiß, dass ich eine große Schwester habe, die immer bei mir ist.
Kristin: Sprechen Deine Freundinnen manchmal mit Dir darüber? Und wie erklärst Du ihnen, dass Du eine Schwester hast, die gestorben ist?
Tochter von Tina: Ich habe mit zwei Freundinnen im Kindergarten über Amelie gesprochen und da habe ich gesagt, dass meine große Schwester in Mamas Bauch gestorben ist, aber wir wissen nicht, warum.
Sie haben dann ein bisschen traurig geguckt, aber das ist okay.
Kristin: Gibt es etwas, das Dir hilft, wenn Du traurig bist oder jemanden vermisst? Etwas, das Dich tröstet oder Dir guttut?
Tochter von Tina: Wenn ich traurig bin, kuschel ich mit Mama und dann geht es mir besser. Oder ich spiele und male in meinem Zimmer mit meinen Kuscheltierfreunden. Das macht mir Spaß und dann geht es mir besser.
Kristin: Was würdest Du anderen Kindern sagen oder raten, die auch jemanden verloren haben?
Tochter von Tina: Nicht allein bleiben und zu jemanden gehen, der dich tröstet.
Wenn du traurig bist, kannst du mit Mama und Papa kuscheln oder in den Himmel gucken – da wohnen die, die man vermisst.
Was ist Sternenkinder Dessau e.V.?
Sternenkinder Dessau e.V. begleitet Familien ehrenamtlich vor, während und nach der Geburt ihres Sternenkindes und möchten betroffenen Familien die Möglichkeit geben, über ihren Verlust zu sprechen und mit ebenfalls Betroffenen in Kontakt zu kommen.
Eine wichtige Säule seiner Arbeit ist die Akutbegleitung für Eltern, die kontinuierlich ausgebaut wird.
Von verschiedenen Gesprächskreisen für Betroffene („Sternenkinder“, „Ende der guten Hoffnung“, „Unerfüllter Kinderwunsch nach Sternenkind“, „verwaiste Eltern“ und „Männerstammtisch“) über einen Gesprächskreis für Folgeschwangerschaften bis hin zu Bewegungsangeboten („Pränatalyoga“, „Postnatalyoga“) und kreativen Angeboten („Kreativkreis“) bietet der Sternenkinder Dessau e.V. eine umfassende Begleitung für betroffene Familien. Darüber hinaus bieten er auch die Begleitung von medizinischem Personal und Arbeitgebenden an.
Um die Eltern auch auf dem letzten Weg ihres Sternenkindes zu unterstützen, begleitet der Verein die Bestattungen auf den Sternenkindfeldern der Umgebung.
Kontakt: kontakt@sternenkinder-dessau.de
Mehr Informationen unter www.sternenkinder-dessau.de
Dieses Interview wurde erstveröffentlicht im drunter+drüber-Magazin #21 „Familie und Tod” (Nov 2025).
Über die Autorin: Kristin Rogge ist gelernte Hotelfachfrau. Seit 2020 arbeitet sie in einem Krematorium, ist dort für die gesamte Öffentlichkeitsarbeit einschließlich Social Media verantwortlich und hat sich in viele verschiedene Fragen zur Bestattungs- und Endlichkeitskultur eingearbeitet.
Alle Beiträge von Kristin Rogge gibt es hier.
Foto: Christina Schubert
