„MAN RECHNET MIT VIELEM, ABER NICHT DAMIT.“

Ein Gespräch mit Sabrina Spengler über den Verlust ihrer Tochter Joleen, über Wut, Verantwortung, Erinnerung und die Kraft, nicht zu schweigen.

Foto: Kristin Rogge

von Kristin Rogge

Als Sabrina Spengler ihre Tochter Joleen zur Welt bringt, scheint zunächst alles nach Plan zu verlaufen. Eine Schwangerschaft ohne Auffälligkeiten, keine erkannten Risiken, keine Warnhinweise. Doch bei der Geburt kommt es zu Komplikationen. Und es ist niemand vor Ort, der sofort helfen kann. In dem Krankenhaus, in dem Joleen zur Welt kommt, ist in dieser Nacht kein Kinderarzt anwesend. Bis jemand eintrifft, vergeht wertvolle Zeit.

Joleen überlebt, erleidet jedoch schwere Schädigungen. Die Folgen begleiten die Familie fortan durch den Alltag: Pflege, Therapie, Sorgen – und unendlich viel Liebe. Doch Joleens Leben bleibt von Beginn an fragil. Im Alter von nur wenigen Jahren stirbt sie.

Sabrina Spengler, Mutter und Bestattungsfachkraft, hat lange geschwiegen. Dann hat sie begonnen, über ihre Geschichte zu sprechen. Denn sie weiß: Es geht nicht nur um ihre Tochter. Es geht um ein strukturelles Problem. Viele Menschen – darunter auch viele werdende Eltern – wissen nicht, dass in deutschen Kliniken nicht immer ein Kinderarzt oder eine Kinderärztin bei der Geburt anwesend ist. Auch unerkannte Risikoschwangerschaften sind keine Seltenheit. Wer sich in Sicherheit wiegt, kann schwer enttäuscht werden.

Wir haben Sabrina Spengler gebeten, mit uns über ihre Erfahrungen zu sprechen. Über Joleen. Über Schuld und Verantwortung. Über den Mut, aus Schmerz Worte zu machen. Und darüber, was bleibt.

Kristin: Wenn du an den Tag der Geburt zurückdenkst, was ist dir besonders im Gedächtnis geblieben? Welche Gefühle hast du in dieser Situation gehabt? Was ist passiert, als klar wurde, dass etwas nicht stimmt?

Sabrina: Jede einzelne Sekunde ist mir von der Geburt bis heute im Gedächtnis geblieben. Die plötzliche Unruhe und Panik, die sowohl die Hebamme als auch die Assistenz- und Chefärztin hatten. Diese furchtbare Hilflosigkeit. Dieses bloße Schweigen auf Fragen. Auch die Angst um meine eigene Gesundheit, da es mir direkt nach der Geburt nicht gut ging.

Da uns im Kreissaal auf unsere Frage hin, ob alles in Ordnung sei, die ganze Zeit über nicht geantwortet, sondern nur gesagt wurde, dass die Kinderärzte aus Halle kommen, um unsere Kleine abzuholen, konnten wir nur erahnen, dass etwas nicht stimmte.

Erst aus späteren Berichten und durch Aufklärung der Kinderärztin in Halle wussten wir, was bei der Geburt schief gelaufen ist und was die daraus resultierenden Konsequenzen sind. Wir wurden buchstäblich von dem Krankenhaus, in dem ich entbunden habe, im Dunkeln gelassen.

Kristin: Gab es vor der Geburt deiner Tochter Warnsignale oder Hinweise auf Risiken? Hattest du rückblickend das Gefühl, ausreichend informiert und vorbereitet gewesen zu sein? Hätte etwas anders laufen können – oder müssen?

Sabrina: Unsere Tochter war bis zur Geburt kerngesund. Es gab keinerlei Warnsignale oder Hinweise auf Risiken. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht, dass ich aufgrund meiner leichten Adipositas als Risikoschwangere gelte und somit nie in diesem Krankenhaus hätte entbinden dürfen. Auch bei der Anmeldung zur Geburt in diesem Krankenhaus wurde ich nicht darauf hingewiesen.

Es würde sich bereits viel ändern, wenn bei den Anmeldungen darauf hingewiesen wird, dass es ein ungeeignetes Krankenhaus ist, sollte man eine Risikoschwangere sein, oder auch bei den Kreissaalführungen die Wahrheit zu sagen, dass eben kein Kinderarzt direkt vor Ort im Krankenhaus ist, sondern erst einer aus einer anderen Stadt hinzugerufen werden muss.

Im Nachhinein habe ich das Gefühl bzw. bin auch der festen Überzeugung, es wird vieles billigend in Kauf genommen, nur um die Geburtszahlen entsprechend hochzuhalten.

Auch bin ich der Meinung, dass für solche Fälle, die so schnell eintreffen können, das Personal nicht adäquat geschult ist. Ansonsten wäre die Erstversorgung meiner Tochter viel besser verlaufen.

Kristin: Viele Menschen wissen gar nicht, dass es in deutschen Kliniken nicht selbstverständlich ist, dass bei oder unmittelbar nach jeder Geburt ein Kinderarzt oder eine Kinderärztin anwesend ist. Warum ist es dir so wichtig, genau auf diesen Punkt aufmerksam zu machen?

Sabrina: Weil viele genauso wie ich im Unwissen darüber sind. Man freut sich als Schwangere, in dem Krankenhaus in der eigenen Stadt entbinden zu können, was nicht üblich ist. Man denkt sich, die Hebammen und Ärzte wissen, was sie tun. Aber eben das ist auch ein Trugschluss, wenn es dann doch zu Komplikationen kommt. Es wurden in der direkten Erstversorgung durch die Ärztinnen und einem Anästhesisten so viele Fehler gemacht, die durch stetige Schulungen des Personals hätten vermieden werden können.

So sagt es auch das unabhängige Gutachten aus, welches durch die Staatsanwaltschaft zwecks unserer Klage erstellt wurde.

Es wurde unter anderem ein Herzstillstand durch die Ärztinnen bei unserer Tochter herbeigeführt. Sie wurde 15 Minuten lang reanimiert. Es wurde vergessen – oder weil es schlicht nicht vorhanden war –, unsere Tochter nach der Reanimation auf eine Kühlmatte zu legen, da der Körper überhitzt. Auch der Beatmungsschlauch wurde falsch gelegt. Durch diese ganze Mangelversorgung erlitt unsere Tochter einen erheblichen Sauerstoffmangel, wodurch ein Drittel des Gehirns einfach abgestorben war. Sie war dadurch auch erblindet, hatte Spastiken in Armen und Beinen und litt unter epileptischen Anfällen.

Solche Level 4 Kliniken sind einfach nicht für den Ernstfall gewappnet, aufgrund des fehlenden Kinderarztes, fehlender Kinderstation und auch dem nicht ausreichend vorhandenen Equipment.

Ich möchte einfach auf diese Missstände aufmerksam machen, da jede Familie ein Recht auf ein gesundes Kind hat.

Kristin: Wie sah euer gemeinsamer Alltag mit Joleen aus? Welche besonders liebevollen, vielleicht auch ganz normalen Momente mit ihr sind euch in Erinnerung geblieben und was hat euch in dieser Zeit viel abverlangt?

Sabrina: Unser Alltag war geprägt von täglichen Medikamentengaben, Arzt- und Therapieterminen und Krankenhausaufenthalten. Wir haben ihr dennoch durch den Kindergarten, Spaziergänge oder Ausflüge versucht, einen normalen Alltag zu ermöglichen. Wir waren oft im Zoo, wo sie bei den Eseln immer die Nase rümpfte 😉 Besonders liebte sie es, einfach immer mit uns zu kuscheln und Musik zu hören.

Es wurde uns tatsächlich viel abverlangt. Wir wurden buchstäblich ins kalte Wasser geworfen, als uns alle Diagnosen offengelegt wurden und uns erklärt wurde, was uns die Zukunft so bringt. Wir mussten jeden Tag viele Termine für sie koordinieren, wobei man oft seine eigenen hintenan stellte oder schlichtweg vergaß. 

Hinzu kam der wortwörtliche Kampf gegen das Krankenhaus. Von der Klage bis zum Ende haben wir fünf Jahre gebraucht, aber wir haben für unser Kind durchgehalten.

Kristin: Joleen ist inzwischen gestorben. Wie geht ihr mit der Trauer um? Gibt es Momente, in denen sie euch besonders nah ist? Und wo findet ihr heute Kraft?

Sabrina: Anfangs hat es uns den Boden unter den Füßen weggerissen. Wir konnten nicht einmal das Kinderzimmer betreten. Nachts sind wir z. B. immer vom Piepen ihrer Nahrungspumpe wach geworden, obwohl diese gar nicht an war. Jede Minute in der Wohnung war anfangs unerträglich.

Die Trauer, aber auch die Momente und Erinnerungen, in denen wir an sie denken, sind jeden Tag allgewärtig. Wir erzählen oft von ihr, auch wie sie sich vielleicht weiterentwickelt hätte. Natürlich denken wir auch ganz oft darüber nach, was aus ihr geworden wäre, wäre sie gesund gewesen.

Kraft finden wir am Grab, welches wir liebevoll hergerichtet haben. Grad bei Sonnenschein und wenn der Wind so sanft weht, genießen wir diesen Moment der Stille und des Innehaltens bei ihr.

Kristin: Du hast dich dazu entschieden, eure Geschichte öffentlich zu erzählen – in TV-Interviews, im Gespräch mit Journalist:innen und jetzt auch hier in unserem Magazin. Was hat dich dazu bewegt, diesen Schritt zu gehen?

Sabrina: Ich möchte schlicht und ergreifend auf dieses verschwiegene Thema aufmerksam machen, sodass werdende Eltern ihre Klinikwahl zum Wohle ihres Kindes überdenken. Aber vor allem möchte ich, dass die Politik auf diese Missstände aufmerksam gemacht wird. Es muss sich zwingend etwas ändern. Vielleicht auch gerade jetzt, wo die neue Krankenhausreform ins Rollen kommt. Es kann nicht sein, dass so etwas in unserem doch recht guten Gesundheitssystem Bestand hat, auf Kosten der Gesundheit der Kinder und Mütter.

Auch möchte ich darauf aufmerksam machen, dass es, wenn dieser schlimme Fall eingetreten ist, einfach viel zu wenige bis fast gar keine Einrichtungen gibt, die auf beeinträchtigte Kinder spezialisiert sind. Nicht jede Familie schafft die Pflege allein zu Hause oder traut es sich zu. Wir wissen durch eine Bekannte, die nach Jahren einfach körperlich diese tägliche Pflege ihres Kindes nicht mehr leisten konnte, sie sehr weit fahren musste, um eine Einrichtung zu finden, die ihr Kind adäquat versorgen kann. Auch dahingehend muss sich etwas tun.

Kristin: Wie lebt Joleens Erinnerung in eurem Alltag weiter? Gibt es Rituale, kleine Zeichen, feste Orte oder Gedanken, die ihr bewahrt habt?

Sabrina: Mein Mann z. B. schaut jeden Morgen beim Kaffeetrinken auf das Bild unserer Tochter und lässt seine Gedanken an sie schweifen. Das hilft ihm, Kraft zu tanken.

Wir haben auch eine kleine, hübsche Gedenkecke bei uns zu Hause eingerichtet.

Mir hilft mein eigener Umgang mit der Trauer vor allem in meinem beruflichen Alltag als Bestattungsfachkraft. Ich habe dadurch, dass ich genau weiß, wie sich die Angehörigen in den jeweiligen Situationen fühlen, irgendwie feinfühligere Antennen und finde die richtigen Worte. Das zeigt mir auch immer die Herzlichkeit, Dankbarkeit und die Umarmungen der Angehörigen.

Ich bin immer bestrebt, die Wünsche der Angehörigen umzusetzen, aber ich bringe mich auch mit vielen, manchmal auch verrückten Ideen zum besonderen Abschied der Verstorbenen ein, egal ob ein schönes Ritual oder einer entsprechenden Dekoration, angelehnt an das Leben der verstorbenen Person. Ich sage immer, ich bin für die Angehörigen sehr perfektionistisch, da ich weiß, dass es der letzte Abschied ist.

Kristin: Wenn ihr zurückblickt: Was hat euch in dieser Zeit geholfen? Welche Unterstützung war wertvoll? Und was hättet ihr euch zusätzlich gewünscht, vielleicht auch vom Gesundheitssystem, eurem Umfeld oder der Gesellschaft?

Sabrina: Geholfen hat uns in der Zeit z. B. nach der Geburt, als Joleen noch lebte, dass wir tolle Ärzte, Therapeuten und auch tolle Kurzzeitpflegeeinrichtungen gefunden hatten, die uns wirklich unterstützt haben.

Wir selbst haben unsere Tochter nie zu Fortschritten angetrieben, sondern sie sich einfach so entwickeln lassen, wie es ihr eigenes Tempo vorgab. Wir gingen mit ihr ihren Weg.

Nach dem Tod unserer Tochter hatten wir tolle Freunde, die uns unterstützten und stets für uns da waren. Sie haben uns alle aufgefangen, wofür wir unendlich dankbar waren.

Gewünscht hätten wir uns einfach überall auf allen Ebenen weniger Bürokratie, gerade wenn es um Hilfsmittel von der Krankenkasse ging. Auch dass das Netzwerk mehr ausgebaut wird, man an die Hand genommen wird, wenn der Fall eingetreten ist. Man musste sich selbst buchstäblich in das ganze Pflegesystem reinfuchsen, vieles selbst erarbeiten, recherchieren und sich weiterbilden, trotz dass es Beratungsstellen gibt, die aber auch oftmals nicht wissen, wo es lang geht.

Es sollte auch mehr Ärzte geben, die sich auf die Bedürfnisse behinderter Kinder einstellen. Es gibt einfach zu wenig Fach- bzw. Kinderärzte auf dem Gebiet.

Ebenso müsste bei Verdacht auf Ärztepfusch automatisch eine Rechtsberatung durch entsprechende Fachanwälte in Gang gesetzt werden.

Von der Gesellschaft hätten wir uns mehr Akzeptanz gewünscht. Körperlich und geistig Behinderte, egal ob Kind oder Erwachsene, werden einfach immer noch schief angeschaut. Solche Blicke oder auch dumme, herabwürdigende Sprüche mussten wir auch oft ertragen. Ein behindertes Kind im Rollstuhl und dazu noch Eltern, die Gothics sind. Aber wir sind immer erhobenen Hauptes und stolz mit unserem Kind durch die Straßen gelaufen.

Es wird viel von Inklusion geredet, aber das ist immer alles nur heiße Luft. Oftmals wird ein normaler Ausbildungs- oder Arbeitsweg für diese Menschen gar nicht angestrebt, obwohl es teilweise möglich wäre, sondern immer nur Werkstätten. Sie werden als Randgruppen gesehen, obwohl sie mitten rein in die Gesellschaft gehören. Das ist einfach nur traurig.

Kristin: Was wünscht ihr euch für andere Familien, die Ähnliches erleben? Gibt es etwas, das ihr betroffenen Eltern oder auch Außenstehenden mit auf den Weg geben möchtet?

Sabrina: Kämpft. Auch wenn der Alltag hart, schwierig und kräftezerrend ist, macht weiter aus Liebe zu eurem Kind. Die Dankbarkeit, die euch eure Kinder für eure Aufopferung entgegenbringen, ist mit nichts aufzuwiegen. Eure Kinder sind kleine Kämpfer.

Unser Kind war auch eine kleine Kämpferin und hatte unser Leben mehr als bereichert. Sie lernte von uns, aber wir noch viel mehr von ihr. Wir werden diese Zeit nicht missen. Sie war unser kleines Vorbild und ist es heute noch.

Kristin: Und zuletzt: Was gibt euch heute Zuversicht?

Sabrina: Es gibt uns Zuversicht, fest daran zu glauben, dass unsere Kleine stolz auf uns ist, wie wir unseren Weg nach ihrem Tod gemeistert haben.

Kristin: Danke für das Interview, Sabrina. Dein Mut, offen über das Erlebte zu sprechen, ist wichtig für andere betroffene Familien. Zudem trägt er dazu bei, ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu schaffen, was passiert, wenn Strukturen versagen. Joleens Geschichte ist stellvertretend für viele. Danke, dass du sie mit uns geteilt hast.

Dieses Interview wurde erstveröffentlicht im drunter+drüber-Magazin #21 „Familie und Tod” (Nov 2025).

Porträtfoto Kristin Rogge, Kristin steht mit verschränkten Armen in der Natur vor einem Baum

Über die Autorin: Kristin Rogge ist gelernte Hotelfachfrau. Seit 2020 arbeitet sie in einem Krematorium, ist dort für die gesamte Öffentlichkeitsarbeit einschließlich Social Media verantwortlich und hat sich in viele verschiedene Fragen zur Bestattungs- und Endlichkeitskultur eingearbeitet.

Alle Beiträge von Kristin Rogge gibt es hier.

Foto: Christina Schubert