„WEIHNACHTEN UND TOD” 2: Weihnachten in Ohlsdorf
von Jan Müller

Kurz vor Weihnachten empfehle ich euch einen Spaziergang über den Friedhof.
Ist das morbide? Ich denke nicht.
In diesen Tagen sind wir, ob religiös orientiert oder nicht, alle auch mit der Vergänglichkeit konfrontiert.
Das Jahr geht zu Ende und wir denken an diejenigen, die beim Festessen nicht mehr bei uns sind.
Für mich ist es befreiend, dieser Konfrontation nicht auszuweichen, sondern sich auf sie einzulassen.
Ich bin in Hamburg geboren und aufgewachsen. Diese Stadt hat das Glück, einen Friedhof zu haben, der keine enge Ansammlung von Gräbern ist, sondern ein weitläufiger und einzigartig vielfältiger Park.
Wilhelm Cordes, der Architekt des im Jahr 1877 eröffneten Friedhofs Ohlsdorf sagte: „Der Friedhof soll nicht eine Stätte der Todten und der Verwesung sein. Freundlich und lieblich soll Alles dem Besucher entgegentreten“.
Das erlebe ich in Ohlsdorf zu jeder Jahreszeit. Im Winter ist die Stimmung ganz besonders eindrücklich.
Schon als Kind machte ich mit meinen Eltern lange Spaziergänge durch den riesigen Park.
An diesen Tagen lernte ich viel. Ich lernte ganz beiläufig über das Leben, den Tod und die Natur. Ich lernte über Architektur und die Natur des Menschen.
Auf dem Friedhof Ohlsdorf erfuhr ich auch: Selbst nach dem Tod lebt das Geltungsbedürfnis fort. Es bricht sich Bahn in schönen, hässlichen und riesigen Grabanlagen. Doch irgendwann setzt auch hier der Verfall ein. Selbst die spektakulärsten Gräber kann es treffen. Wenn nicht bald etwas geschieht, wird wohl das Mausoleum des Barons von Schröder in der Nähe der Kapelle 7 zusammenstürzen. Die 1908 errichtete Grabstätte ist das größte Mausoleum Nordeuropas und steht unter Denkmalschutz.
In besserem Zustand ist das Grab des Friedhofsgründers Cordes und seiner Familie. Dieses ist allerdings auch viel bescheidener. Man erreicht es durch einen schmalen Weg. Der Grabstein aus Mainsandstein ist mit drei singenden Engeln geschmückt.
Nicht weit vom Cordes-Grab entfernt ruhen meine Eltern, meine Großeltern und mein als junger Mann an einer Krebserkrankung verstorbener Bruder. Ich nähere mich dem Grab und meine Stimmung ändert sich. Mich beeindruckt, dass durch den Besuch eines Ortes eine Präsenz von Trauer entstehen kann. Ich spüre Verbundenheit und Liebe.
Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen, als ich noch eine Runde drehe. Ich biege um die Ecke, laufe am Millionärshügel vorbei, zum Nordteich. „Früher schwammen schwarze Schwäne auf diesem Teich“, hatte meine Mutter mir einst erzählt. Ich schaue auf die Enten am Ufer und dann gehe ich zurück, den Stillen Weg entlang, den riesigen Rhododendren entgegen und am Krematorium und der Gedenkstätte für die Opfer Nationalsozialistischer Verfolgung vorbei, bis ich den Haupteingang wieder erreiche.
Bald ist Weihnachten. Ich erinnere mich.

Über den Autor: Jan Müller, geboren 1971 in Hamburg, ist seit der Gründung 1993 Bassist der Rockband Tocotronic. Müller lebt seit 2010 in Berlin. Er betreibt seit 2019 den Interview-Podcast Reflektor. Außerdem schreibt er seit 2021 eine Kolumne gleichen Namens in der Zeitschrift Musikexpress. 2022 veröffentlichte er bei Ullstein den Roman Vorglühen.
