„WEIHNACHTEN UND TOD” 3: Aus dem Tagebuch einer Totenkopffalterin

von Jennifer Sonntag

So, dann dekoriere ich mal für Weihnachten: Dieser Totenschädel aus Wachs wirkt auf dem Stapel abgegriffener Alchemie-Almanache doch schon mal sehr gemütlich. Dazu kommt noch ein Arrangement aus alten Apothekengläsern mit Etiketten, die von hoch giftigen Substanzen erzählen. Was, das ist nicht wirklich weihnachtlich? Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich von Teilen meiner Hausgemeinschaft als heimliche Weihnachtswichtelin nicht in Erwägung gezogen wurde? Naja, mein Balkon feiert auch eher Día de Muertos als Happy Christmas. 

Man mag es auf den ersten Blick vielleicht nicht glauben, aber ich, die personifizierte Totenkopffalterin, trage durchaus weihnachtsromantische Gefühle in mir. So führte ich in meinem Haus ein kleines Ritual ein. Am Anfang wollte ich mich eigentlich nur unaufdringlich bei meiner netten Nachbarin bedanken, einer älteren Dame, die häufig Pakete für uns annahm. Es machte mir große Freude, ein Präsenttütchen für sie zusammenzustellen und es an ihre Türklinke zu hängen. Aber acht Tütchen für acht Wohnparteien machten achtmal mehr Spaß. Da mein Partner auch Heiligabend Frühschicht hatte, war er der Erste im Haus und flatterte fledermausgleich von Etage zu Etage, um die Gaben zu verteilen. Ich freute mich dann wie ein kleines Kind, wenn im Laufe der nächsten Tage unten an unser schwarzes Brett Kärtchen mit lieben Worten an den heimlichen Weihnachtsmann angepinnt wurden. Auch wir bedankten uns, um nicht aufzufliegen.

Letztes Jahr hörte ich direkt vor meiner Tür ein Grüppchen von Hausbewohnerinnen über diese seltsame Weihnachtswichtelei spekulieren, die sich nun schon seit vielen Heiligen Abenden zutrug. Da ich ganz unten wohne und sich mein Schlaf- und Arbeitszimmer direkt neben dem Hauseingang befindet, werde ich oft unfreiwillig Ohrenzeugin von Treppenhausgesprächen. Die Damen rätselten nicht leise: Wer würde es wohl sein? Niemand aus ihrem Kaffeekränzchen, da waren sie sich sicher. Vielleicht die Wohnungsgenossenschaft. Darauf setzte die eine. Nein, ganz bestimmt Frau Gotscha von ganz oben, diese wunderbare Frau, die mache das konsequent seit so vielen Jahren, schwärmte die andere. Die erst neu hinzugezogenen Parteien kämen rein rechnerisch nicht in Frage, da war man sich einig. Als sie so Stock für Stock durchgingen, bemerkte ich, dass ich in ihren Überlegungen überhaupt nicht vorkam. Huch, da war plötzlich ein Schmerz in mir, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich wollte zwar unaufdringlich Freude bereiten, aber im Reigen nicht mitgedacht zu werden, fühlte sich wie Ausgrenzung an. Eigentlich hätte ich mich diebisch freuen können. Ich, die blinde Hausbewohnerin, war für sie unsichtbar geblieben. Aber das kannte ich als behinderte Frau aus so vielen Situationen: Ich stand nicht mit auf der Liste. Dabei hatte ich geglaubt, mit meiner stillen Botschaft ein Gemeinschaftsgefühl kreiert zu haben, in dem ich jetzt selbst nicht stattfand. Gibt es etwa keine blinden Wichtelinnen? 

Meine Freundin relativierte: „Es muss auch gar nichts mit deiner Blindheit zu tun haben, sondern mit eurem Gothic-Look.“ Da war was dran. Mein Partner und ich trugen viel schwarz, auch der Hund, und bei uns hatte man noch nie einen Weihnachtsbaum durch die Fensterscheiben funkeln sehen. Ich würde uns als höfliche Menschen bezeichnen, dabei vergesse ich aber allzu oft, dass wir anders aussehen. Ob bei uns jemand gestorben sei, wurden wir nicht nur einmal gefragt. Vielleicht denken Menschen auch, wir kokettieren mit dem Tod? Dem ist nicht so. Ich setze mich auf verschiedenen Ebenen respektvoll mit Verletzlichkeit und Vergänglichkeit auseinander, da ich es schon sehr früh musste. Vielleicht ist das befremdlich für andere Menschen und mit Weihnachten überhaupt nicht vereinbar? Für mich durchaus schon und ich suche eher nach den verbindenden Elementen in den Jahresenderzählungen. So sitze ich jeden Winter in meinem Kuriositätenkabinett, umgeben von mystischen Wesen und dem Skull aus Wachs, während ich mit meinen schwarz lackierten Spinnenfingern ganz ernst gemeint glitzernde Weihnachtsgeschenke für meine Mitmenschen zusammenstelle. Und ich liebe es, vom Weihnachtsbaum meiner Eltern zu profitieren. Meine Mom treiben ganz anders gelagerte Dekogelüste um als mich. Bei ihr baumeln magentafarbene Miniatur-High-Heels zwischen den Tannenzweigen und im Regal zieht eine kleine Engelsskulptur ihre frisch gebackenen Plätzchen aus einem historischen Öfchen. 

Die Wichtelin in mir jedenfalls hadert nun. Habe ich das Treppenhausgespräch überbewertet? Natürlich brennen sich die lauten Stimmen besonders ein, das ist ja leider immer so. Aber sie sprechen ja nicht für alle. Ich wäre keinen Deut besser, wenn ich jetzt selbst andere vorverurteile. Ein bisschen traurig bleibe ich dennoch zurück. Die Situation hat mich durchaus geerdet. Es muss nicht noch mehr desselben sein. Meine wirklich liebe Nachbarin kam in diesem Jahr mit Demenz in ein Pflegeheim. Mit ihrem Verschwinden lasse ich auch den weihnachtlichen Hokuspokus los. Sie hat es verdient, dass man wertschätzend über sie denkt: „Es wird doch nicht sie gewesen sein?“ Ich weiß, sie hat das Ritual gecheckt. Und ich stelle im nächsten Jahr vielleicht einfach zur Abwechslung mal kleine bunte Zuckerschädel vor die Türen.

Porträtfoto: Jennifer Sonntag sitzend

Über die Autorin: Jennifer Sonntag ist Diplom-Sozialpädagogin, Fachjournalistin und Buchautorin. Für die ARD war sie von 2008 bis 2022 als blinde Moderatorin und Kolumnistin in eigenen TV-Formaten tätig. Heute arbeitet sie frei für verschiedene Online-, Audio- und Printmedien. Als Inklusionsaktivistin engagiert sie sich für bessere Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen und richtet dabei ihr Augenmerk insbesondere auf die Benachteiligungen behinderter Frauen.

Autorinnenfoto: privat

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