„WEIHNACHTEN UND TOD” 22: Weihnachtsleid
von Luci van Org

Die Duftkerzen im Saisonartikelregel verströmen künstliches Zimt-Glühweinaroma, das zu den Sonderangebots-Gefriertruhen herüberweht. Die sind mit blinkenden Lichterketten geschmückt. Um auf die Tierkadaver hinzuweisen, die sich darin befinden. Gänse aus „Polnischer Hafermast”. Während ihres kurzen Lebens wurden diesen Vögeln etwa vier Mal bei lebendigen Leib die Federn zur Daunengewinnung ausgerissen und ihnen wurden dabei sehr wahrscheinlich Flügel oder Beine gebrochen, bevor unterbezahlte Schlachthof-Leiharbeitskräfte sie schließlich – nach stundenlangem Transport in einem schlecht belüfteten Lastwagen – an den hochempfindlichen Füßen kopfüber in ein Förderband hängten. Flatternd und schreiend vor Schmerzen und Angst wurden die Tiere auf diese Weise ins so genannte Strombad transportiert, wo sie durch Elektroschocks betäubt werden sollten. Was in vielen Fällen aber nicht gelang, weswegen nicht wenige der Vögel noch bei vollem Bewusstsein waren, als ihnen ein automatisches Messer schließlich den Hals im Nacken aufschnitt, woraufhin sie ausbluteten und starben.
Jetzt, wo sich ihre Leichen gebrüht, gewaschen, in Plastik-Schrumpfschläuche verpackt und schockgefrostet in der Truhe stapeln, ist von all dem Blut und dem Martyrium der Gänsekinder (ja, Kinder, schließlich waren sie nur wenige Monate alt und Gänse haben eine Lebenserwartung von etwas 15 Jahren) nichts mehr zu sehen. Nur noch Weihnachtszauber zwischen blinkenden Lichtern für nicht einmal sechs Euro das Kilo. Frohes Fest!
Angewidert drehe ich mich weg. Ohnehin alles andere als in Feiertagslaune nach einem weiteren Jahr Dauerfeuer aus Horrornachrichten von Krieg, Klimawandel, Faschismus, Terror und Leid.
Leid, wohin ich auch sehe.
Leid nicht nur in den Nachrichten – und Social Media-Apps, in denen ich beim Doomscrollen versinke, obwohl ich das nicht will, sondern eben auch Leid in der verdammten Supermarkt-Gänsekühltruhe und Leid auf dem Fast Fashion-Grabbeltisch voller Weihnachts-Sweater. Schließlich wurden die hässlichen Dinger ziemlich sicher auf der anderen Seite der Weltkugel unter Bedingungen zusammengenäht, die völlig zu Recht als Moderne Sklaverei bezeichnet wird. Mal abgesehen vom Leid durch ihr grellrot-weißes Synthetikfleece, das bei jedem Waschgang die Umwelt für Jahrtausende mit Mikroplastik vergiftet und dem Leid auf der Straße vor dem Supermarkt, wo obdachlose Menschen, die nicht einmal mehr solche Billig-Sweater bezahlen können, sich ihre dreckstarrenden Schlafsäcke um den Körper wickeln, bevor sie sich durch die nasse Kälte schleppen. Leid auch in den Quengel-Aufstellern an der Kasse voller Schokoweihnachtsmänner aus zutiefst unfair gehandeltem Kakao und zutiefst tierquälerisch produzierter Milch, Leid in den Marzipankartoffeln aus kalifornischen Mandeln, deren Anbau so viel Wasser verbraucht, dass ganze Landstriche austrocknen, und Leid im Gesicht der alleinerziehenden Mutter, die jetzt versucht, ihr Kind daran zu hindern, den Quengel-Süßkram in den Einkaufswagen zu zerren. Weil sie ihn einfach nicht bezahlen kann, wegen der Mieterhöhung und der Heizkostennachzahlung. Sogar Leid in den duftenden Mandarinen aus der Obstabteilung, die voller Pestizide sind, von denen Kinder in den Anbaugebieten unheilbar erkranken und natürlich Leid, unermessliches Leid, in jedem Teil des Smartphones, mit dem ich gleich meinen Wocheneinkauf bezahlen werde. Einen Wocheneinkauf, von dem jedes einzelne Produkt ganz sicher ebenfalls ungeheures Leid erzeugt oder erzeugt hat, irgendwo auf der Welt. Selbst, wenn dieser Einkauf vegan ist und größtenteils bio und fairtrade und regional und was immer es sonst noch für Siegel gibt, um in dem ganzen Elend noch irgendwie das eigene Gewissen zu beruhigen.
Leid, Leid, Leid, nichts als Leid in dieser komplett kaputtverkauften Welt.
So viel Leid, dass die Stimme in meinem Kopf jetzt hämisch zu flüstern beginnt. Davon, dass alle Versuche, irgendwas Gutes zu tun, all dieses Leid auch nur ein winziges Bisschen zu lindern, doch sowieso keinen Sinn haben. Um so mehr, weil ich doch selbst Teil bin dieses zerstörerischen Monstrums namens Turbokapitalismus, es nicht schaffe, mich ihm zu entziehen, eine Mittäterin bin. Ein hässlich privilegiertes Rädchen im Getriebe der Zerstörungsmaschinerie unserer Welt.
Immer unerträglicher wird das Flüstern, hilflos und wie betäubt stehe ich zwischen all dem Grauen.
Als sie plötzlich anfangen zu tanzen.
Zwei Frauen, vor mir in der Kassenschlange. Beide tragen blinkende Weihnachtsfrauen-Mützen, halten Händchen und wippen im Takt zur billig produzierten Techno-Version von Kling-Glöckchen-Klingelingeling aus der Lautsprecherbox. Nicht spöttisch, ironisch oder abgegessen, sondern einfach nur unbeschwert und voller Freude aneinander. Ehrlich und ganz echt. So ehrlich und echt, dass allen um sie herum, auch mir, ganz leicht wird ums Herz für einen winzigen Augenblick.
So leicht, dass mein Herz es schafft, mich an etwas zu erinnern: daran, dass nichts so zerstörerisch ist wie der Glaube, es habe keinen Sinn mehr, sich zu widersetzen.
Denn ist das nicht genau das, was das Monstrum will? Uns vergessen machen, wie mächtig wir in Wahrheit sind? Mächtig durch unsere Fähigkeit, mitfühlend, liebevoll und verantwortungsvoll zu sein. Nicht über jeden Zweifel erhaben. Einfach nur so mitfühlend, liebevoll und verantwortungsvoll, wie wir es eben können inmitten aller Widersprüche und aller Verstrickungen unseres modernen Lebens.
Vielleicht ist das naiv, aber ich bin fest davon überzeugt, dass das Monstrum des Turbokapitalismus nichts so sehr fürchtet wie unsere Fähigkeit, miteinander liebevoll, mitfühlend und verantwortungsvoll zu sein. Weil Liebe, Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein sich nicht kaufen oder verkaufen lassen. Weil Liebe, Mitgefühl und Verantwortung uns so viel mehr Kraft geben als die hohlen Dopamin-Kicks zehntausender Reels. Weil Liebe, Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein all die immer mehr geschürten Ängste voreinander überwinden, mit der das Monstrum uns betäuben und lenken will.
Jedes ehrliche Lächeln, jede Umarmung, jede liebevollen Geste, jedes vegane Essen, jedes nichtgekaufte Technik- oder Fast Fashion-Teil, jedes nicht gesehene Reel, jeder noch so kleine Akt von Liebe, Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein hat Sinn. Weil wir durch ihn die Macht haben, Widerstand zu leisten. Auch und gerade zu Weihnachten. Liebt kaputt, was uns kaputt macht! Frohes Fest!

Über die Interviewpartnerin: Auch wenn Luci van Org das „Mädchen“, mit dem sie mit Lucilectric Popgeschichte geschrieben hat, immer im Herzen trägt – heute ist „Cross-Media-Künstlerin“ sicher die treffendere Bezeichnung für die quirlige Berlinerin Jahrgang 1971. Die mittlerweile mehrfach preisgekrönte Roman-, Drehbuch- und Theaterautorin, Illustratorin und Schauspielerin hält natürlich auch der Musik noch die Treue, bei ihrem Soloprojekt Lucina Soteira, mit ihrem Duo Meystersinger oder als Songschreiberin und Produzentin für andere Künstler. Logisch, dass sie bei ihren Lesungen deshalb auch so gut wie immer musiziert und singt und ihre Bücher auch häufig selbst illustriert. Die schreibt die überzeugte Feministin übrigens schon seit 2018 komplett in gendergerechter Sprache, und zwar so geschickt, dass es gar nicht auffällt. Weil das geht – und weil sie es nötig findet.
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Foto: Axel Hildebrand
