„WEIHNACHTEN UND TOD” 23: Sie

von Anne Martin

Ich hätte mich nicht noch einmal hinlegen sollen. An diesem frühen Morgen des 23. Dezember hatte ich um 7 Uhr ein 24-Stunden-EKG abgeschlossen und zurückgegeben, war im Anschluss mit dem Taxi nach Hause gefahren und ging gegen 8.30 Uhr zurück ins Bett. Keine zwei Stunden später klingelte mein Handy: Vor wenigen Minuten war Sie gestorben.

Obwohl ihr Tod schon so viele Jahre zurückliegt, was sich daran erkennen lässt, dass Taxifahrten noch so was wie erschwinglich waren, bleibt diese Zeit, dieser Moment des Anrufs, ein dunkler, unförmiger Klumpen irgendwo zwischen Herz und Lunge. Denn als ich an diesem 23. Dezember, befreit von den lästigen Kabeln und dem turnusmäßigen Brummen und Pumpen, das Taxi bestieg, überlegte ich eine Weile, ob ich den Fahrer nicht doch das Krankenhaus ansteuern lassen sollte. Ich entschied mich für die eine Seite der Stadt und die Wärme meines Partners, der noch unter der Decke lag, während Sie auf der anderen Seite der Stadt lästige Kabel und Brummen und Pumpen umgaben.

Was seitdem damoklesähnlich als Konjunktiv im Präteritum über mir schwebt, ist dieses ewige „Hätte ich doch …“, „Wäre ich …“. Das, was mir blieb, als mich das nächste Taxi am frühen Vormittag zum Krankenhaus gefahren hatte, war die schwindende Wärme ihres Körpers, der unter einer Decke das Leben verabschiedete. Während mein Herz per Aufzeichnung das tat, was es bei einem Menschen Mitte 20 für gewöhnlich tun sollte, setzte sich ihres gegen den Herzschrittmacher durch, bäumte sich ein letztes Mal auf, um schließlich stillzustehen. Nur den niedlich geschmückten Weihnachtsbaum auf Station interessierte das wenig – er leuchtete im Buntmodus fröhlich vor sich hin.

Weihnachten war immer schon ein Jahreshighlight in unserer Familie, eine Instanz, die uns nicht nur an einen Tisch brachte, weil das eben ein Mal im Jahr so zu sein hatte. Uns führten die Feiertage in Warmweiß Generationen übergreifend vor Augen, dass uns alle ein enges Band verknüpfte, und das nicht nur, wenn einen die Kälte draußen zum Zusammenrücken drinnen zwang. Und dafür war aus meinen Augen Sie seit jeher verantwortlich: eine Matriarchin, eine Patronin.

Nie hatte ich als Kind das Gefühl, dass Sie sich ihren Platz am Kopf der Familientafel, im Leben, jemals hätte erkämpfen müssen. Sie, wie Sie auch im voranschreitenden Alter mit augenscheinlicher Leichtigkeit, immanenter Güte, selten despektierlichem Alltagssarkasmus und einem offenen Geist für Neues, für Anderes, die Fäden in der Hand hielt, ohne, dass Sie oder ein anderes Familienmitglied das jemals hätte anmerken müssen, war bis zum Ende Kit und Brecheisen gleichermaßen für ein so sensibles Konstrukt wie Familie. Je nach dem, was ebendieses Konstrukt gerade benötigte. Kaum war Sie nicht mehr da, zerfiel es nach und nach in seine Einzelteile, die sich andernorts zu wieder neuen fragilen Konstrukten formierte und die Nächsten an der Reihe nun daran waren, es zusammen zu halten.

Mit ihrem Tod einen Tag vor Heiligabend, vor unserem heiligen Abend, stellte sich uns wie allen anderen Hinterbliebenen, die es gab, gibt und künftig geben wird, die unausgesprochene Frage nach der Sinnhaftigkeit von Festen, die der Kalender vorgibt, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob wir sie in einer solchen Ausnahmesituation nun mit dicken Tränensäcken begehen oder alle Weihnachtsdekoration dieser Welt am liebsten mit einem fetten Vorschlaghammer zerdreschen möchten, weil sie uns so pietätlos-fröhlich in die verheulten Augen blinkt.

Psychologie und Volksmund meinen ja (meistens auch völlig ungefragt), dass das eigene Leben weitergeht, weitergehen sollte, nachdem einem das Schicksal so richtig eins reingedrückt hat. Wer hätte das mehr bestätigen können als Sie? Ihr Vater, einer der gefragtesten Aufseher in Buchenwald, hat dies geleugnet bis in den Tod. Sie darum aus Prinzip rot im Herzen, nichts leugnend, sodass alle nach ihr mit einem selbstverständlichen Bewusstsein für vergangene und zukünftige Geschichte großwurden. Ging es nach ihr, sollte kein Kind je wieder ein Nachtgebet schließen müssen mit „Amen, Heil Hitler und Gute Nacht“.
Zugegeben, aus mehreren Blickwinkeln wurden diese wenigen Worte ein geflügelter Satz unseres engsten Familienkreises, etwa wenn nach einer lapidaren Unterhaltung alles gesagt war. Niemand musste bei uns auch nur ein Gebet sprechen und gegen Nazis sind wir ohnehin auf die Straße gegangen. Warum sage ich das? Nicht der Absolution wegen, sondern weil Sie uns einen unumkehrbaren Blick auf die Gesellschaft eingeimpft hat, ohne, dass es wehtat beim Pieksen, und auch ohne, dass wir immun wurden gegen den Blick auf Sie auch von einer anderen Seite.

Sie muss in dem Alter gewesen sein wie ich, als ich anfing, mich mit Glatzen zu kloppen. Da verlor Sie ihren geliebten Bruder. Einer, der mit mir mitgekloppt hätte. Er fuhr sich tot in seinem brandneuen roten Flitzer und mit einem Schlag wurde ihr Leben grau. Vorerst gab es in ihrer Familie niemanden mehr, mit dem Sie ihre Träume, ihre Nonkonformität und ihren Intellekt hätte teilen können. Leider war ihr anderer Bruder diesbezüglich eine Enttäuschung. Ihr Vater sowieso.

Die Pechsträhne in Sachen Männern wollte nie so recht abreißen. Auch nicht, als sie den Vater ihrer drei Kinder traf. Er war klug, er war groß, er war schön, er war ein sadistischer Narzisst. Niemand wie er würde heute einer Prüfung durch ein Familiengericht standhalten und es waren seine geringsten Vergehen, seinen Kindern im Dunkeln aufzulauern, die Hand auf den Lichtschalter zu legen, zuzupacken, wenn sie ihn betätigen wollten, und sich darüber königlich zu amüsieren.

Zu Weihnachten gab es für die älteste Tochter ein ganz persönliches Geschenk von ihm, nur für sie: wunderschön verpackt, überdurchschnittlich groß, zumindest größer, als es zu dieser Zeit üblich war. Das vor Freude springende Kinderherz war geblendet und schöpfte keinen Verdacht, als da eine Aufmerksamkeit vom Vater kam, obwohl für jedwedes Menschelnde ausschließlich Sie verantwortlich war. Im Geschenk befand sich ein Geschenk, befand sich ein Geschenk, befand sich ein Geschenk und als das glückselige Mädchen das letzte geöffnet hatte, hielt sie mit hängenden Schultern eine alte Rolle Filz in der Hand, während seine Schadenfreude gleichermaßen wie sein hämisches Lachen die Enttäuschung im Raum zerschnitten.

Mir allein bricht es das Herz, obwohl ich diese und schlimmere Begebenheiten nur aus Erzählungen kenne. Wie muss es ihr, wie muss es einer Mutter gegangen sein, die das Leid ihrer Kinder ungefiltert miterlebte. So viele Frauen konnten sich nicht wehren, können es auch heute nicht. Sie schon. Sie ging und nahm ihre Kinder mit.

Dass eine Frau in der DDR arbeiten ging, war völlig normal. Weniger allerdings, dass sie sich und die Kinder dazu alleinerziehend durchs Leben brachte. Überdies war Sie Mutter im Geiste für etliche junge Kolleginnen, denen Sie mit liebevoller Wärme, aber auch knallharter Durchsetzungskraft das Handwerk beibrachte, aber auch, sich zu behaupten in einer Domäne, in der kluge Frauen dennoch fast ausschließlich am Empfang zu finden waren, Kaffee kochten und den Chef bei Laune hielten. Nicht Sie – das gab Sie auch ihren Töchtern (und ihrem Sohn) weiter, ebenso den jungen Frauen, die 40 Jahre später am gleichen Ort meine Mentorinnen werden sollten.

Ihr Befreiungsschlag gegen das Patriarchat (ohne Übertreibung, ohne Zynismus) ist mit heutigem Blick auf eine Zeit, in der es nahezu undenkbar war, dass eine Frau eine männliche Lebensphilosophie nicht nur nachahmte, sondern ganz und gar verkörperte wie die gleißende Explosion eines Sterns, der nach Sammlung aller erdenklichen Kräfte in unendlich vielen Teilen in den Weiten des Universums aufgeht. (Oder aber wie Clark Kent, der sich mit springenden Knöpfen das Hemd aufreißt und zu Superman wird; aber dieser Vergleich hinkt etwas.)

Ihre Funken sprühten über und inspirierten nicht nur Frauen im Umfeld. Wer als Mann nicht von vornherein die Flucht aus Furcht antrat, verliebte sich gnadenlos in Sie, was Sie sich bisweilen sehr gefallen ließ. Sie nahm und entließ. Der letzte Mann, der kam, war fast 20 Jahre jünger als Sie: Was für ein Skandal! Doch er blieb an ihrer Seite bis zu jenem 23. Dezember, ob das nun über Jahrzehnte alle gutheißen mochten oder nicht.

Über derlei Blicken, Maulzerfetzen und Anzweiflungen stand Sie mit all ihrem hart erarbeiteten Stolz und lehrte uns wieder eine so wichtige Lektion: Nimm dir, was du willst, entschuldige dich nicht dafür, lass dir aber auch nicht wehtun und füge keinem, den du liebst, Schmerz zu! Ob Sie das bei sich immer imstande war umzusetzen und ob sie manches, was Sie sich nahm nicht doch lieber wieder zurückgegeben hätte, ist fraglich wie unerheblich. Schließlich war Sie ein Mensch und keine Göttin, wenngleich nicht viel gefehlt hätte. Unsterblichkeit zum Beispiel.

Drei Wochen hatten wir als Familie Zeit, uns von ihr zu verabschieden. Sie war krebsfrei seit mehr als fünf Jahren, für einen Wimpernschlag ihres Lebens hatte Sie garstige Momente, die uns hätten hellhörig werden lassen sollen: Metastasen-Explosion bis in jeden Winkel ihres Körpers und die Tatsache, dass wir ohne Vorwarnung am Anfang des Abschiednehmens standen. Da brannte es in den Straßen der Stadt schon fröhlich im Buntmodus und Adventsmusik waberte über das Pflaster.

Für uns fing mit dieser Weihnachtszeit ein völlig neuer Puls an zu schlagen. Lagen wir all die Jahre wieder zusammen unterm Baum, Geschenk in der einen, Keule in der anderen Hand, lag Sie nun in unserer Mitte wie das Jesuskind umringt von allen, die kamen, das Wunder zu schauen. (Herrgott, wenn Sie das jetzt lesen würde!)

Es war das Wunder des Sterbens und das ist keinesfalls blasphemisch oder despektierlich gegenüber den Sterbenden wie Trauernden wie Konfessionellen gemeint. Wenn ein Mensch stirbt, bleiben Schmerz und Frieden im Gleichmaß, und es war, als hätte Sie in diesen Stunden Kit und Brecheisen an Schmerz und Frieden überreicht, die nun die Verantwortung hatten für unser Konstrukt Familie.

Stunde um Stunde saßen wir um ihr Bett, erzählten, sangen, weinten, lachten, streichelten ihr Gesicht, hielten ihre Hand, kämmten ihr Haar und – ja – machten Fotos. Verhaftet uns.

Diese Stunden gehörten zu den schönsten meines Lebens. Denn noch im Tod flogen ihre letzten Funken, nicht nur auf uns, die wir jeden einzelnen, der noch kam, versuchten, mit den Händen einzufangen und zu bewahren. Das Krankenhauspersonal sog dieses noch zarte Glimmen aus der einst großen Kraft einer starken Frau ganz in sich auf. Denn noch nie hatte es erlebt, dass Menschen so Abschied nehmen: abwechselnd an sie gekuschelt, dabei ihre letzten morphiumgeschwängerten und deshalb unfreiwillig komischen letzten Worte rezitierend, bis es Abend wurde. Und immer zusammen. Niemand wollte gehen, niemand drängte uns, wobei es die bürokratische Langsamkeit um die Feiertage sehr gut mit uns meinte.

Nie wieder stand die Zeit für mich so friedlich still wie an diesem 23. Dezember, als Sie diese Welt für immer verließ und die Fackel weitergab an die nächste Hüterin ihres ganz eigenen Konstruktes Familie: meine Mama.

Bitte, Zeit, steh nie wieder still!

Porträtfoto Anne Martin

Über die Autorin: Anne Martin (*1985 in Erfurt) hat Musikwissenschaft in Leipzig studiert, fühlt sich auf der Bühne als Jazz-Sängerin und Rednerin sowie vor dem Rechner als Autorin und Lektorin aber ungleich wohler. Derzeit haucht sie einem Bau- und Kulturdenkmal im Burgenlandkreis als Antithese zum Bauhaus neues Leben ein und realisiert dort Veranstaltungen.

Foto: Hannah Franke