WAS LIEBLINGSLIEDER MIT NEKROMANTIE ZU TUN HABEN

von Luci van Org

Porträtfoto Luci van Org von Axel Desboesen
Foto Luci van Org: Axel Desboesen

Der schönste aller Berliner Friedhöfe an einem eiskalten Januarmorgen. Aber ich habe kein Auge für die mit Raureif beglitzerten Bäume, weil ich auch nach vier Wochen noch unter Schock stehe wegen Mareks Tod. 

So sehr, dass es sich nicht einmal mehr unangenehm, sondern seltsam passend anfühlt, als sich wegen der Kälte nun auch jedes Gefühl aus meinen Wangen, meinen Fingern und meinen Zehen zu verabschieden beginnt. 

Innen wie außen taub komme ich auf dem Vorplatz der Friedhofskapelle an – und bei der Menschentraube aus sicher mehr als hundert Leuten, die sich davor gesammelt hat. Viel zu viele für das kleine Gebäude in Zeiten der Pandemie, deshalb nimmt drinnen gerade nur der engste Familienkreis von Marek Abschied. Wir anderen warten draußen, um gleich wenigstens noch die Asche unseres Freundes auf dem Weg ins Grab zu begleiten. 

Stumm stehen wir vor verschlossenen Türen, sehen dabei aneinander vorbei, selbst wenn wir uns kennen. Alle gleichermaßen unfähig, Worte zu finden für unseren Schmerz. Von Minute zu Minute wird das Schweigen quälender und ich schicke einen Dankesseufzer zu der einzigen Krähe, deren heiserer Ruf die Stille zumindest bisweilen unterbricht. 

Da öffnen sich endlich die Türen der Kapelle – und plötzlich geht drinnen Musik an. Richtig laut! Elektronischer Techno – Wegbereiter-Sound aus den Neunzehnsiebzigern, feinster Liebhaberstoff für Klangnerds. „Typisch Marek“, schießt es mir durch den Kopf, während sich die wabernden, zwitschernden, perlenden Synthesizerakkorde über den Vorplatz der Kapelle ergießen, sich von dort hoch in die Bäume erheben, in ihrer Leichtigkeit völlig unpassend wirken zu unser Trauer – und das Wunder geschieht: 

Marek ist wieder da!

Nicht aus Fleisch und Blut, aber dennoch mit allem, was ihn ausmacht. Mit seiner Klarheit, seiner Klugheit, seiner Eleganz, seinem Witz. In jedem Ton dieses Musikstücks, das ihm zu seinen Lebzeiten so viel bedeutet hat, kann ich ihn spüren. Die Klänge beginnen mich zu umarmen, mit genau derselben liebevollen Stärke, die Mareks Umarmungen eigen war. Der Fluss der Töne strömt in meinen Kopf, in meinen Körper, nimmt alle Taubheit von Gliedmaßen und Seele, wärmt und erfrischt mich gleichermaßen, wird zu einem Lebenselixier.

Nicht nur für mich.

Denn wir alle, ob in der Kapelle oder draußen, wirken mit einem Mal verändert. Wir beginnen uns aufzurichten, durchzuatmen, Blickkontakt aufzunehmen. Wer sich kennt, nickt einander zu und im Schutz des Klangteppichs werden erste Worte gewechselt. Hier und da sehe ich sogar ein vorsichtiges Lächeln.

Als die Musik schließlich verstummt, ist die Stille leisem Murmeln und behutsamer Geschäftigkeit gewichen. Zwar ist unser Schmerz noch da – unsere Schockstarre aber ist Liebe gewichen. Tiefer Liebe zu unserem Freund Marek, der uns in den vergangenen Minuten so nah war wie seit seinem Tod nicht mehr.

Noch heute, Monate später, überfällt mich die Trauer um Marek manchmal so heftig, dass sie mir den Atem nimmt. Wann immer möglich, praktiziere ich dann Magie. Mächtige Magie. Ich werde zur Nekromantin! Und das ganz ohne Beschwörungsformeln, Sigillen oder Pentagrammen, sondern nur, indem ich im Internet nach diesem einen, ganz bestimmten Musikstück suche. Ich klicke auf Start, drehe es so laut, wie es geht, lasse mich in die Klänge fallen – und hole Marek damit zu mir zurück. Ganz nah. Wenigstens für ein paar Minuten.

Weil Musik nun einmal magisch ist. So magisch, dass sie für kurze Zeit sogar Tote wieder auferstehen lassen kann, wenn es sich um deren Lieblingsmusik handelt. Nicht nur bei Marek habe ich das so erlebt. Meine Tante Ester zum Beispiel, die bis kurz vor ihrem Tod mit 99 Jahren noch ihren Beruf als Organistin ausübte, hatte bereits Jahre vor ihrem Ableben sogar das gesamte Musikprogramm ihrer Trauerfeier genauestens persönlich geplant. Als es schließlich soweit war, ließ das von ihr zusammengestellte Füllhorn erlesenster Klassik, dargeboten von Familienmitgliedern und Schülerinnen an Orgel und Klavier, meine Tante die ganzen anderthalb Stunden der Feier so präsent sein, dass es vielen der Anwesenden schon fast unheimlich war. 

Auch meine geliebte Schwiegermutter, ihr Leben lang ein riesiger ABBA-Fan, wurde bei den ersten Takten von „Dancing Queen“, das wir an ihrem Grab aus der Boombox erschallen ließen, mit einem Mal wieder lebendig – und wird es noch heute, wann immer Björn, Benny, Agnetha und Anni-Frid irgendwo zu hören sind.

Tatsächlich durfte ich sogar schon selbst mehrfach diejenige sein, die bei einer Trauerfeier das entscheidende Lieblingslied für die Anwesenden singt, und so einen geliebten Menschen für einen Moment wieder auferstehen lässt. Dies zu tun, ist so ziemlich das Anspruchsvollste und Schwerste, was mein Beruf zu bieten hat. Der Druck, etwas falsch zu machen oder zu vergessen, ist unglaublich hoch. Dazu kommt die Gefahr, selbst in Tränen auszubrechen und nicht mehr singen zu können, wenn es sich um Menschen handelt, die ich selbst gekannt und geliebt habe. Trotzdem bin ich unendlich dankbar für jede einzelne dieser Erfahrungen. Weil sie gleichzeitig eben auch zum Magischsten – und trotz allen Schmerzes deshalb auch zum Schönsten – gehören, das eine Sängerin tun kann. 

Immer aufs Neue tief beeindruckt von diesen Erlebnissen, habe ich mir nun etwas vorgenommen: In den kommenden Monaten werde ich alle Menschen, die mir viel bedeuten, nach ihrer Lieblingsmusik fragen. Auch wenn ich den Grund meist wohl eher verschweigen werde. Die Frage „Verrätst du mir dein Lieblingslied, damit ich dich ab und zu zu mir zurückholen kann, falls du vor mir stirbst?“  könnten einige vielleicht doch als etwas zu grenzüberschreitend empfinden.

Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in der drunter+drüber-Printausgabe #14 „Musik und Tod” (Mai 2022).

Portraitfoto Luci van Org: Axel Desboesen

Über die Interviewpartnerin: Auch wenn Luci van Org das „Mädchen“, mit dem sie bei „Lucilectric“ Popgeschichte geschrieben hat, noch immer im Herzen trägt – heute ist „Cross-Media-Künstlerin“ sicher die treffendere Bezeichnung für die quirlige Berlinerin Jahrgang 1971. Die mittlerweile bereits mehrfach preisgekrönte Roman-, Drehbuch- und Theaterautorin, Illustratorin und Schauspielerin hält der Musik nämlich auch noch die Treue, zum Beispiel bei ihrem Soloprojekt Lucina Soteira,  als weibliche Hälfte des Duos Meystersinger oder als Songschreiberin und Produzentin für andere Künstler. Logisch, dass sie deshalb bei ihren Lesungen auch so gut wie immer musiziert und singt und ihre Bücher auch häufig selbst illustriert.

Alle Beiträge von und mit Luci van Org gibt es hier.

Foto Luci van Org: Axel Desboesen