GEWALT UND TOD IM DaF-UNTERRICHT.
von Oskar Terš
Wären die Pläne von AFD, Identitären und anderer Spinner:innen bereits Realität, so wäre ich als nicht integrierbarer Österreicher (Semmel! Sackerl! Gsöchtes! usw.) und somit Ausländer wie auch wegen meiner Arbeit als „Deutsch als Fremdsprachentrainer (DaF)“ mit anderen nicht integrierbaren Ausländern bereits in einem nordafrikanischen Staat remigriert worden. DaF-Trainer:innen werden ja gerne als asoziale Zecken angesehen, die den lieben langen Tag mit ihren Teilnehmer:innen Hütchen spielen und die deutsche Leitkultur untergraben.
Dass unsere Arbeit dabei laufend emotionale und persönliche Grenzen einreißt, wird leider meist geflissentlich übersehen. Folgendes Erlebnis, das exemplarisch für viele andere steht, soll veranschaulichen, warum ich für den im Sommer 2024 erscheinenden MaTDaF-Band (Materialien im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht) „Comics im DaF-Unterricht“ das Thema „Gewalt und Tod im Unterricht“ wählte:
Ich betreute 2013 in Wien einen Alphabetisierungskurs, welcher sehr heterogen zusammengesetzt war. Die Teilnehmenden stammten einerseits aus sicheren Herkunftsländern wie der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien, aber auch aus aktuellen Krisengebieten wie Afghanistan oder Irak. Ebenso von der Alters- und Geschlechteraufteilung war der Kurs durchmischt, ältere Teilnehmende kurz vor der Rente neben unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Einer dieser Jugendlichen kam aus Afghanistan, musste in Iran als Kind in einer Fabrik arbeiten und wurde dadurch drogenabhängig. In Ermangelung Opiums in Österreich griff er zu Heroin und war während des Kurses auf Methadontherapie. Da er den Drogenersatzstoff jedoch immer erst am Nachmittag bekam, der Kurs jedoch vormittags stattfand, war er an vielen Tagen „Turkey“, im kalten Entzug. Das machte ihn zeitweise phlegmatisch, zeitweise überdreht und gewaltbereit; beide Gefühlslagen konnten auch plötzlich umschlagen. Eines Vormittags erwähnte er in seiner phlegmatischen Stimmung abseits des Lehrstoffes, dass sein Bruder während eines Kampfes erstochen worden sei, zog dann plötzlich ein Springmesser und rammte es in meinen Schreibtisch, um die Gewalt des Aktes zu symbolisieren. Ich reagierte perplex, zog das Messer aus der Tischplatte, nahm es an mich und ihn mit aus dem Klassenraum, um ihm klarzumachen, dass die Polizei verständigt werden müsste. Bevor dies jedoch geschah, konsultierten wir noch meine Vorgesetzte, die aus Iran stammte und mit dem Teilnehmer auf Dari sprechen konnte. Da er mittlerweile die Sinnlosigkeit und Gefährlichkeit seiner Aktion realisiert hatte, beließen wir es bei einer Verwarnung und den restlichen Teilnehmer:innen wurde erklärt, dass er in einer kurzzeitigen Vernachlässigung der Gewohnheiten in Österreich vergessen hatte, dass der Gebrauch von Waffen strafbar ist. Diese Auslegung führte zu einer angeregten Diskussion unter den Teilnehmenden, wie solch eine Situation in ihren Heimatländern gehandhabt werde; auf Alphabetisierungsniveau, doch die Worte und Sätze kamen lockerer über die Lippen. Mit diesem Teilnehmer hatte ich die restlichen Monate des Kurses nie wieder eine Gewaltkonfrontation, die Beziehung mündete in gegenseitigem Respekt, da er verstanden hatte, dass der Einsatz von Gewalt nicht zielführend ist. Mit seiner Drogenberaterin wurde vereinbart, dass er seine Methadonration vor dem Kurs bekommen solle, um solche Zustände nicht ein weiteres Mal zu provozieren. Wenn ich dieses Ereignis in Gewaltpräventionsfortbildungen schilderte, bekam ich als Reaktion der Vortragenden, dass ich das Messer stecken lassen, den Klassenraum alleine verlassen und die Polizei verständigen hätte sollen, um die Situation „abzukühlen“. Der traumatherapeutische Ansatz impliziert, die Gewaltaktion zu akzeptieren, die übrige Gruppe in der Gefahr der Eskalation zu lassen und stattdessen Hilfe zu holen. Dies mag theoretisch die bessere Lösung sein, hätte aber nicht zur Umstellung der Therapie des Teilnehmers und seiner Realisierung des Problems und schon gar nicht zu seiner weiteren Integration in der Gruppe und der Diskussion darüber geführt. Mein spontanes und unüberlegtes Handeln basierte auf der reinen Gewaltkonfrontation ohne deren wissenschaftlichen Hintergrund. Ein zuvor erfolgter Arbeitsschritt bezüglich der immanent schwelenden Gewaltbereitschaft des Teilnehmers unter Zuhilfenahme des Mediums Comics hätte die Situation vielleicht undramatischer gelöst oder gar nicht zustande kommen lassen.
Wegen des brutalen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine sind seit März 2022 viele Menschen in die deutschsprachigen Länder geflohen, die in ihrem Heimatland Gewalt und Tod erfahren mussten. Um diese Personen adäquat in die Klassen- und Kursgemeinschaft integrieren zu können, müssen ihre Kriegstraumata berücksichtigt werden und sie müssen als seelisch verletzte Unterrichtsteilnehmende angesehen werden. Wie stark diese Verletzung ist und wie sie sich während des Unterrichts äußert, ist individuell ausgeprägt, doch ist sie immer vorhanden.
Der DaF-Unterricht muss demnach für sie als sicherer Ort angesehen werden können, in welchem die Teilnehmenden wieder ihre innere Sicherheit zurückgewinnen können. Comics, als grenzüberschreitende und allgemein verstehbare Medien, bieten die Möglichkeit, im DaF-Unterricht einen solchen sicheren Ort zu schaffen, wobei das Thema von Gewalt und Tod nicht ausgegrenzt, sondern über die neu zu erlernende Sprache das einst Erlebte reflektiert werden soll. In den, in Integrationskursen am häufigsten verwendeten, Lehrbüchern wird bereits in den ersten Kapiteln auf A1-Niveau das Thema „Familie“ behandelt. Mit der Bildung von Entscheidungsfragen wie „Hast du Kinder/Geschwister/etc.?“ besteht bei Geflüchteten aus Kriegsgebieten eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese mit der Erwähnung des Todes von Familienangehörigen beantwortet werden, weshalb bereits sehr früh im Sprachlernprozess neben „verheiratet“ und „ledig“ die Adjektive „gestorben“ und „verwitwet“ eingefügt werden müssen. Diese können sehr rasch als Trigger für erlittene Traumata wirken, welche im Unterricht präsent bleiben.
Angesichts der seit Oktober 2023 gezeigten brutalen und verstörenden Bilder des Terrorüberfalls der Hamas wie auch der aggressiven militärischen Reaktion Israels darauf muss ebenso eine Reflektion über die in verschiedenen gesellschaftlichen Kulturen praktizierten Gebräuchlichkeiten von Todesdarstellungen in den Medien berücksichtigt werden. Inwieweit ist demnach das im deutschsprachigen Raum gepflegte Verständnis, was Zumutbarkeiten der Darstellungen von Tod und Gewalt betrifft, mit den Erlebnissen und Erfahrungen der Teilnehmenden vergleichbar? Mittels der für den deutschsprachigen Raum konzipierten Graphic Novel-Reihe „Gevatter“ von Schwarwel will ich in meinem Artikel für MaTDaF eine Verbindung zwischen dem Comicgebrauch im DaF-Unterricht und der Gegenwart des Todes ziehen.
Die Indizierungs- und Ethikvorschriften der deutschen Gesetzeslandschaft in Bezug auf gedruckte und digitale Medien können als allgemeines Problem in der deutschsprachigen Gesellschaft mit dem Vorhandensein von Tod und Gewalt gesehen werden, was mit unterschiedlichen Ansätzen im Feld der Sepulkralkultur zu entkrampfen versucht wird. Der FUNUS Stiftung ist es, neben anderen Organisationen, ein wichtiges Anliegen, der Tatsache des Todes wieder einen Platz in der gesellschaftlichen Mitte zu geben. Dementsprechend versucht sie, Formate zu entwickeln, die den Zugang zu der Auseinandersetzung mit dem Tod erleichtern sollen – u. a. die von Schwarwel gestaltete Graphic-Novel-Reihe „Gevatter“.
Dadurch, dass die Hauptfigur Tim Schwarwels Alter Ego entspricht, erfährt „Gevatter“ durchgehend eine persönliche Note und versucht, so nahe wie möglich nicht nur in der erlebten Realität, sondern auch in der erfahrenen Gefühlswelt zu bleiben. Die Graphic Novel symbolisiert somit für den Lesenden sowohl Vertrautes als auch Fremdes, welches jedoch immer die eigene Vita Schwarwels widerspiegelt und nicht ins Abstrakte abgleitet. Für Teilnehmende am DaF-Unterricht ergibt sich so die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen zusammen mit der deutschen Sprache über eine authentische Comicgeschichte zu reflektieren.
In den bislang erschienenen Bänden von „Gevatter“ spielen Gewalt und Tod eine zentrale Rolle im Leben des Protagonisten Tim. Dabei sind die Zeichnungen und Texte Schwarwels jedoch nie so explizit, dass sie in Gefahr liefen, indiziert zu werden. Er spielt mit einer einerseits oft nur angedeuteten, andererseits konkreten Darstellung von verstörenden Bildern. In meinem MaTDaF-Artikel zeige ich anhand ausgewählter Sequenzen aus den vier erschienenen Teilen, wie Gewalt und Tod im DaF-Unterricht aufbereitet werden können.
Die Graphic-Novel-Reihe „Gevatter“ wurde geschaffen, um die gesellschaftliche Ferne des Todes im deutschsprachigen Raum abzubauen und ihn zu einem regulären Thema im zwischenmenschlichen Gebrauch zu machen. Diese Intention kann demnach in meiner Arbeit genutzt werden, um jenen Teilnehmenden, die selbst Todes- oder Gewalterfahrungen machen mussten, einen Raum zu geben und diese in der für sie fremden Sprache zu artikulieren. Die Graphic-Novel-Reihe ist ob ihrer Sprache zwar eher für höhere Sprachniveaus geeignet, da sie aber viele Inhalte über die Zeichnungen transportiert, kann sie für die reine Ansprache von Traumata auch in niedrigeren Sprachniveaus angewandt werden und bietet somit einen Ansatz, den DaF-Unterricht als sicheren Raum zu erleben. Auch wenn in Deutschland diese Themen verdrängt werden und ethischen Ansprüchen unterliegen, sollten sie im DaF-Unterricht nicht absichtlich ausgespart bleiben, wenn das Bedürfnis zur Schaffung eines sicheren Fundaments vorhanden ist. Oder, um mit einem in sich wahren Gemeinplatz abzuschließen: Der Tod gehört zum Leben, und somit auch zum Erlernen der Sprache.
Abb.: „Gevatter“ Cover-Illustrationen von Schwarwel, v.o.n.u.: „Kapitel Eins: Verleugnung“, „Kapitel Zwei: Zorn“, „Kapitel Drei: Verhandlung“, „Kapitel Vier: Depression“, „Kapitel Fünf: Akzeptanz“
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in der drunter+drüber-Printausgabe #18 „Sex und Tod” (Mai 2024).
Über den Autor: Oskar Terš wurde in Wien geboren, lebte in Bosnien/Herzegowina, Polen, Tschechien und zeitweise in der Gruft von St. Michael. Mittlerweile arbeitet er am Germanistischen und Historischen Institut der Universität Greifswald als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Neben seines Faible für Gruftmumien lehrt er Deutsch als Fremdsprache und organisiert multilaterale Workshops für Theaterpädagogik.
Alle Beiträge von Oskar Terš gibt es hier.
Autorenfoto linke Seite: privat
