„ICH MUSS NICHT IMMER DIESER VERMEINTLICH „ÜBERRAGENDEN MÄNNLICHKEIT“ DEN RAUM GEBEN“

Interview mit Ron Schöne von Sandra Strauß

Porträtfoto Ron Schöne
Foto: Thomas Wagner

Sandra: Bevor wir richtig ins Gespräch einsteigen, möchte ich zuerst dein Kastaniensammeln ansprechen. Du sammelst sie, um sie wurzeln zu lassen und sie als kleiner Bonsai-Verschnitt später einzupflanzen. In mir ruft das direkt den Gedanken an Achtsamkeit und diese zu üben hervor.

Ron: Genau, ich sammle sie und irgendwann soll meine verstorbene Hündin Mia auch unter einem liegen, sodass ich sie auch als alter Mann noch immer wieder besuchen kann.

Sandra: Weißt du schon, wo? Eher auf einem Friedhof oder im Park?

Ron: Ich denke, eher in einem Park. Ich lebe in Leipzig-Lößnig und dort haben wir den Silbersee. Ich denke, dort in der Umgebung ist ein schöner Platz für die Kastanien und letztlich natürlich auch für Mia.

Sandra: Du möchtest erstmal keinen neuen Hund, richtig?

Ron: Ja genau. Mein Job lässt das leider nicht zu, weil ich viel unterwegs bin. Sobald ich wieder gesund bin, werde ich wieder viel unterwegs sein. Und dann kann ich einem Hund nicht mehr gerecht werden.

Sandra: Du hast es gerade schon angesprochen: Wenn du wieder gesund bist. Du warst kürzlich in der Psychiatrie, zum ersten Mal in deinem Leben. Wie kam es dazu?

Ron: Ich hatte seit Ende März/Anfang April starke Unterbauchschmerzen, die sich auch extrem organisch angefühlt haben. Ich konnte darauf zeigen und einen klaren körperlichen Schmerz wahrnehmen. Als ich damit zu meiner Hausärztin gegangen bin, schlug sie direkt vor, eine Koloskopie zu machen. Der Termin dazu kam relativ schnell, die Untersuchung blieb aber ohne Befund. Die Schmerzen sind in der Zwischenzeit auch stärker geworden. Danach probierten wir es mit einem CT, was jedoch auch ohne Befund blieb. Es kam dann ein Abend, an dem ich die Schmerzen einfach nicht mehr aushielt. Also ging ich in die Notaufnahme des St. Elisabeth Krankenhauses. Dort wurde mir Blut genommen und auch alle anderen typischen Untersuchungen bei solchen Symptomen durchgeführt. Meine Entzündungswerte waren super und ich wurde nach Hause geschickt. Doch leider nicht weniger schmerzerfüllt. Auf der bekannten Schmerzskala stellt die Zehn den Geburtsschmerz dar. Da ich diesen nicht empfinden kann, versuche ich mir diese Skala etwas abgewandelt vorzustellen. Und ich würde sagen, das war schon eine gute Acht. Und damit stieg natürlich auch die Verzweiflung darüber, keine Hilfe zu bekommen. Bei dem nächsten Besuch meiner Hausärztin habe ich dann schon echt fiese Sachen bekommen: Tilidin, Tramadol, also Opiate als Schmerzmittel, die mir nicht geholfen haben. 

Das ganze Spiel mit der Notaufnahme habe ich noch ein zweites Mal durchgespielt, mit dem gleichen Ausgang. In jener Nacht bin ich dann mit Panikschmerzen aufgewacht, mein ganzer Körper hat gebrannt … Ich bin auf den Balkon gegangen und habe überlegt, ob ich springe. Da ich das hier alles gerade erzähle, zeigt, dass ich es nicht getan habe. Am nächsten Morgen rief ich meine Mutter an und war wirklich seelisch komplett am Ende. Ich habe nur noch geweint. Meine Mutter hat dann den Entschluss gefasst, mit mir gemeinsam zur Ärztin zu fahren und mich auch einweisen zu lassen. Und so saß ich dort, noch immer im Heulkrampf und auch die Ärztin sagte klar, dass wir sofort in der Psychiatrie anrufen. Dort wurde direkt gesagt, dass ein Bett für mich frei sei. Von dem Erstgespräch vor Ort kann ich nicht mehr viel wiedergeben, weil mein Zustand es gar nicht hergegeben hat, dass ich aufnahmefähig für irgendetwas war. Intravenös gab es dann Novamin und ein bisschen Kochsalzlösung, weil ich auch total dehydriert war, und ich wurde auf der Akutstation aufgenommen. Dort wurden sehr viele Untersuchungen durchgeführt, ich war bei vielen Konzilen dabei.

Insgesamt dauerte mein Aufenthalt vier Wochen. Doch selbst während dieser intensiven Zeit von Nachforschungen und immer wieder neuen Untersuchungen inklusive Ganzkörper-CT hat es keine Befunde gegeben. Ich war an dem Punkt, dass ich der Stationsärztin gesagt habe, sie sollen mich bitte einfach nur aufschneiden und etwas herausnehmen. Darauf sagte sie: „Herr Schöne, wenn wir das machen, dann ist das Körperverletzung.“ Das war eine Art Schlüsselmoment, der mich etwas wachwerden hat lassen. Sie sprach dann von einer somatoformen Schmerzstörung und erklärte mir, dass meine Schmerzen zwar real, aber eben nicht organisch seien. Sie sagte, diese Schmerzen würden aus Stress und zurückliegenden Traumata generiert. Und dennoch habe ich mich gefragt, wie ich dann all diese ausgeprägten Symptome haben kann. Meine ganze linke Seite schmerzte, mein linker Hoden schmerzte, ich hatte einen dicken linken Knöchel. Aber die Ärztin sagte: „Genau so sind psychosomatische Störungen.“ Der Schmerz entsteht im Gehirn statt direkt am Organ, zeigt aber eben auch die Folgeschmerzen, die eine organische Krankheit mit sich bringen würde. Damit war ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in Berührung gekommen. Mit verschiedenen Therapieansätzen haben wir dann eingegrenzt, woran es also liegen könnte.

Wenn ich auf das vergangene Jahr zurückblicke, sind wohl einige Dinge nicht gerade spurlos an mir vorübergegangen. Meine geliebte Hündin ist in meinen Armen gestorben, hat ihren letzten Atemzug gemacht und ich habe mir gerade mal zwei Wochen Trauer zugestanden. Danach bin ich direkt wieder in meinen Job eingestiegen. Ich arbeite bei einem großen deutschen Unternehmen als Fach- und Führungskräftetrainer. Im gleichen Jahr verstarb dann noch meine Oma. Ich bin umgezogen, habe das auch fast allein gestemmt. Mein Körper hat also irgendwann starke Signale an mein Hirn und das wieder zurück an meinen Körper gesendet und klipp und klar zu mir gesagt: „Es reicht. Ich setze dir jetzt einen Schmerz in den Bauch, damit du endlich zur Ruhe kommst.“ Es war also eine Art Burnout, der sich nicht nur durch extreme Schlafsituationen oder eine Depression zeigt, sondern durch körperlichen Schmerz. Die somatoforme Störung wurde ausgelöst durch eine Anpassungsstörung, weil ich anscheinend doch mehr Traumata mit mir herumschleppe, als ich angenommen hätte. Ich musste in einer Therapie aufschreiben, was mir im vergangenen Jahr am intensivsten vorkam. Das löste in mir sofort ein Tränenmeer aus, weil ich an den Tod meiner Hündin denken musste.

Sandra: Ich möchte jetzt gar nicht auf diesen Ist-Zustand eingehen, in dem du dich während des Sterbens von Mia befunden hast – schon allein, weil ich aus eigener, zweifacher Erfahrung weiß, wie viel Schmerz damit verbunden ist. Aber du wusstest bereits zehn Tage vorher, dass es kommen wird. Und trotzdem wird man sich darauf nie vorbereiten können.

Wie empfandest du die Psychiatrie? War es für dich in irgendeiner Weise ein Problem, den Schritt zu gehen oder warst du vollkommen klar und entschlossen?

Ron: Nein, da stellten sich für mich keine Fragen mehr. Ich war damit fein. Aber natürlich muss ich dazu sagen, dass ich aus einer Generation komme – 1978 geboren –, in der die Psychiatrie das Stigma „Klapse“ hatte. Dort werden alle hingeschickt, „die nicht mehr alle Tassen im Schrank haben“. Man wird dort „ruhiggestellt“. Das war das Bild der Psychiatrie. Und damit wächst man auf, das hat man irgendwie in sich. Aber ich bin eben auch erwachsen und weitsichtig genug, um zu der Einschätzung zu kommen, dass diese Menschen dort die wahrscheinlich einzigen sind, die mir am ehesten jetzt gerade noch helfen können. Und deshalb habe ich mich auch darauf eingelassen. Natürlich habe ich auch schnell gemerkt, dass die Psychiatrie im 21. Jahrhundert nicht mehr die „Klapse“ ist, sondern ein Gesundheitsinstitut, das Menschen hilft. Ich habe mich auch schnell auf meine Diagnose eingelassen. Das ist dort nicht selbstverständlich. Viele leben 20 Jahre mit solchen Schmerzen, lassen sich sehr oft operieren. Aber ich habe den Ärzten und Befunden vertraut. Es war nichts zu sehen. Und dementsprechend war ich schnell therapiebereit. Dabei habe ich auch relativ zeitnah gemerkt, nachdem ich die ersten Medikamente gegen die Schmerzen bekommen habe, dass mir Sport sehr gut dabei hilft, mich von den Schmerzen abzulenken. Praktisch eine Schmerzverschiebung hin zum Muskelkater – ich bin sehr unsportlich. Aber das hat mir eben sehr geholfen. In der Gesprächstherapie habe ich gemerkt, dass die Kombination aus Schicksalsschlägen erleben, aber weiter im Traumjob arbeiten, dazu geführt haben, dass ich die Situation, in der sich mein Körper befunden hat, nicht als solche wahrnehme. Ich musste erst in der Therapie damit konfrontiert werden, dass das eine Stresssituation war und ist. Das öffnete mir die Augen, dass ich bis dato sehr unachtsam mit meinem Körper, meiner Psyche und meiner Seele umgegangen bin. Das rührt auch ein Stückweit daher, dass ich mich innerlich noch wie 20 fühle. Mein Körper ist zwar älter geworden, aber so fühle ich mich eben nicht. Mein Lebensstil ist der gleiche. Ich habe in der Zwischenzeit keine Kinder bekommen, ich mache nach wie vor Musik, ich habe viele jüngere Freunde … Ich lebe einfach mein Leben wie mit Mitte 20. Dass mein Körper nicht mehr Mitte 20 ist, musste ich dann leider auf diese Art verstehen. Denn ich habe gar nicht gemerkt, dass ich mich in so einem Stressjahr befunden habe. Meine Arbeit lag darüber wie ein Schleier. Und so kam es lange nicht an die Oberfläche. Sobald ich Trauer in mir gespürt habe, folgte darauf mehr Arbeit – um mich abzulenken davon.

Sandra: Hast du neben den Therapien auch noch weitere Tipps von deinen Psychiater:innen bekommen, wie du im Alltag besser klarkommst?

Ron: Also in diesen vier Wochen war ich erst einmal auf der Psych 1, das ist die Akutstation. Dort werden Menschen stabilisiert, die suizidale Gedanken, eine Depression oder eine bipolare Störung haben. Die Therapien, die dort laufen, sind aber nicht so passend für mein Krankheitsbild. Sie laufen dort nach einem Gießkannenprinzip – was überhaupt nicht abwertend oder minderwertschätzend gemeint ist. Aber da dort eben sehr viele verschiedene Krankheitsbilder aufeinandertreffen, wird therapeutisch eher an der Oberfläche gekratzt, als dass in die Tiefe gegangen wird. Deshalb stehe ich auch auf der Warteliste für eine Tagesklinik, die psychosomatische Leiden behandelt. In der Psychiatrie werden aber auch Achtsamkeitsübungen und andere Gesprächsrunden angeboten, in denen man mal etwas tiefer gehen kann. Das hat es mir möglich gemacht, mich mehr oder weniger zum ersten Mal mit meiner Seele wirklich auseinanderzusetzen. Ich bin kein Feingeist, das muss ich ehrlich zugeben. Und dort habe ich gelernt, hinter meine Fassade zu schauen. Mich mit mir und auch meinen Fehlern auseinanderzusetzen – eben mit allem, was mich auf irgendeine Art und Weise bewegt. Und was letztendlich meine Krankheit ausgelöst hat. Ein Beispiel dafür ist mein damaliger Tagesablauf gewesen. Ich habe meist erst am Nachmittag etwas gegessen. Die Arbeit hat mir immer viel Spaß gemacht, war aber eben auch stressig und eng getaktet. Dadurch kam bei mir die erste Hälfte des Tages kein Hungergefühl auf. Dann gab es abends vielleicht eine Pizza, nach der ich mich direkt hingelegt habe. Deshalb habe ich auch Übergewicht. Nicht, weil ich zu viel, sondern falsch gegessen habe. In der Klinik habe ich gelernt, dass regelmäßige Mahlzeiten mir alleine für mein Körpergefühl sehr viel bringen. Also frühstücke ich jetzt. Und zwar ausgiebig. Ich nehme mir die Zeit, auch wenn das eben bedeutet, dass ich eine Stunde früher aufstehen muss. Aber ich merke einfach, wie gut mir das tut. Generell versuche ich, achtsamer durch die Welt zu gehen und auch zu schauen, wie sich mein Umfeld bewegt, was in meiner Umgebung passiert. Sonne und Regen waren für mich einfach nur Wetter. Heute nehme ich das richtig wahr. Ich bin noch nicht geheilt, habe aber natürlich auch weniger schmerzerfüllte Tage. An denen nehme ich meine Umgebung und Sonne zum Beispiel sehr viel intensiver wahr, weil ich einfach gemerkt habe, dass mir diese Gleichgültigkeit, dass ich vorher dazu gar kein Gefühl hatte, gar nicht gut tut. Heute stehe ich auf meinem Balkon und nehme Sonne oder Regen bewusst wahr. Ich nehme mir die Zeit und wertschätze das Leben. Und Suizidalität oder die Gedanken, die sich in dieser Zeit in mir gebildet haben, die gehören nicht zu meinem Leben. Das ist mir sehr wichtig, noch einmal zu sagen. Das ist etwas, darüber möchte ich nicht noch ein einziges Mal nachdenken. Selbst damals in dem Moment auf dem Balkon, in dem ich so viel Verzweiflung gespürt habe und dieser Gedanke kam, kam mindestens genauso schnell die Reflexion, dass das nicht ich bin.

Sandra: Das ist natürlich sehr viel wert, in einem solch dunklen Moment diese Erkenntnis für sich zu haben. Und auch den Mechanismus der Achtsamkeit für sich zu finden, ist wahrscheinlich in dieser Zeit so viel wert gewesen. Das finde ich sehr gut und bewundernswert, wie du dich mit dir in dieser intensiven, schweren Zeit auseinandergesetzt hast. Wusstest du für dich, was Trauer bedeutet? Hast du je gelernt, wie man trauert und mit dem Tod umgeht?

Ron: In den ersten 30 Jahren meines Lebens nicht. In der Zeit ist in meinem engeren Familienkreis nämlich auch niemand gestorben. Und dann ist mein Opa gestorben. Dadurch bin ich eigentlich das erste Mal mit dem Tod und anschließend eben auch mit Trauer in Berührung gekommen. Trotzdem habe ich das damals eher unemotional mitgenommen. Er hatte Prostatakrebs und darunter lange gelitten. Als er dann starb, war man einfach froh, dass er von den Schmerzen erlöst wurde und nun vielleicht an einem besseren Ort ist. Es war deshalb eine Mischung aus Trauer und Freude für ihn. Er lag auch lange auf der Intensivstation, am Leben gehalten durch sehr viele Schläuche und Maschinen. Das hat mich letztlich auch dazu bewegt, eine sehr weitgehende Patientenverfügung zu schreiben. Denn das möchte ich für mich nicht haben, im Fall der Fälle. Aber auch das war eher eine Vernunftsache und nicht aus der Trauer heraus. Danach wurde ich innerhalb der Familie sozusagen die treibende Kraft, die Trauerarbeit überhaupt erstmal in die Familie gebracht hat. Da habe ich jedoch viel Ablehnung erfahren. Meine Oma wollte nie etwas davon hören und ich sollte aufhören, darüber zu reden. Dazu muss man natürlich sagen, dass meine Oma 1934 geboren war, und somit Tod und Trauer noch einmal eine ganze andere Geschichte sind. Im weiteren Verlauf ist mein Stiefvater gestorben, worunter meine Mutter natürlich extrem gelitten hat. Mit diesem Verlust hat sich in unserer Familie aber etwas getan und Trauer sowie auch Trauerarbeit wurde aktiver gelebt. Es hat in meiner Mutter ausgelöst, sich im Vornherein um ihre eigene Beerdigung zu kümmern, sie zu zahlen und sich innerhalb der Familie damit zu beschäftigen. Ich für mich habe aber gelernt, dass die sachliche Auseinandersetzung mit dem Tod mich nicht vor meinem somatoformen Schmerz schützen kann. Als Mia und dann auch meine Oma gestorben sind, hat mich das natürlich trotzdem in ein extremes Trauerloch gezogen. Daran musste ich aktiv arbeiten. Mit meiner Hündin habe ich 12,5 Jahre verbracht, die sehr intensiv gewesen sind. Und diesen Verlust habe ich bis heute nicht gänzlich bewältigt. Kann man vielleicht auch nie. Aber nach den zwei Wochen, die ich mir damals als Trauerzeit verordnet habe, dachte ich eben erst einmal: Das muss reichen. Tat es nicht. Nur ich dachte damals eben, das wird Mia auch nicht gerecht, wenn ich mich jetzt auch noch verliere. Und deswegen habe ich weitergemacht. Mia war ein sehr starker Hund. 2020 hatte sie einen Milztumor. Und diese Zeit hat sie so tapfer überstanden. Und an dieser Stärke habe ich mich auch orientiert.

Hund Mia im Gras zwischen den Beinen von Ron
Foto: Katrin Schwurack

Sandra: Diese Beziehung war auch deswegen sehr intensiv, weil Mia erblindet ist und du sie sehr lange gepflegt hast, richtig? Das finde ich sehr bemerkenswert, denn auch wenn das für mich als Hundebesitzerin eine Selbstverständlichkeit ist, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass das nicht alle könnten.

Ron: Ich hatte mit 32 das Gefühl und den Wunsch, Verantwortung im Leben zu übernehmen. Ein Kind kam jedoch für mich schon viel früher nicht infrage. Und Mia war die Erfüllung dieses Wunsches. Ich habe sie mir 2010 von einem Züchter geholt und nach ein paar Jahren ist sie, wahrscheinlich aufgrund eines Zuchtfehlers, blind geworden. Da sie damit noch stärker auf mich angewiesen war, hat sich natürlich unsere Bindung noch einmal intensiviert. Und ich erinnere mich noch an den Augenarztbesuch, als wir die Diagnose bekamen und die Ärztin fragte: „Na, was machen wir denn da jetzt?“ Und in dieser Frage schwang mit, dass Einschläfern eine Option wäre. Das kam für mich überhaupt nicht in Frage, wirklich auf gar keinen Fall. Also da nehme ich dieses Mehr an Aufwand in Kauf, anstatt den Hund gehen zu lassen, nur weil er nichts mehr sieht. Und natürlich ist diese intensive Beziehung zu ihr unter anderem ein Grund für meine jetzige somatoforme Störung. Aber auch rückblickend wäre für mich nichts anderes in Frage gekommen, als sie bei mir zu behalten. Für mich hat es sich auch nicht so angefühlt, als hätte ich dafür ein Stück meines Lebens aufgeben müssen. Mia war Teil meines Lebens und eben auch noch da. Nur halt blind. Deswegen konnte sie aber trotzdem ihre Umwelt nach wie vor wahrnehmen, eben verstärkt mit Nase und Gehör. Und das hatte sie auch verdient.

Sandra: Bei unseren beiden Huskys habe ich zum Glück nie so etwas von unserem Tierarzt gehört. Ganz im Gegenteil. Für ihn, für mich, für uns war immer klar, dass Pflege anstrengend ist, doch dass man das mit einer Selbstverständlichkeit tut. Und kein Tier einschläfert, nur weil man keinen Bock auf Pflege hat, es anstrengend ist, Hunde alt werden oder erblinden. Jedoch, ja, klar, für manche ist es keine Selbstverständlichkeit. Deswegen finde ich es auch bei dir sehr bewundernswert, dass du es mit Mia so viele Jahre durchgezogen hast.

Thema: „Starke Männer weinen nicht“. Kennst du das, bist du damit aufgewachsen?

Ron: Ich hatte einen sehr strengen Vater. Nach der Wende ist er in den Westen gegangen, da hatten wir nur noch sporadisch und seit 15 Jahren gar keinen Kontakt mehr. Er war vom Erziehungsstil genau so. Wenn ich als Kind geweint habe, hieß es immer, ich solle mich nicht so haben – Jungs weinen nicht. Und unterbewusst habe ich das auch für mich mitgenommen. Als mein Opa starb, habe ich nicht wirklich geweint. Bei Trennungen kam es hin und wieder vor, dass ich geweint habe. Eine meiner Trennungen hatte Vernunftgründe, also nicht etwa, weil keine Liebe mehr da gewesen ist. Und das hat mir dann schon auch Tränen in die Augen getrieben, aber natürlich nur für mich allein.

Als wir dann die Diagnose von Mia bekommen haben, dass sie erblindet, habe ich auch geweint, aber eben nur in ihrem Beisein. Als sie dann gegangen ist, habe ich auch wieder gemerkt, wie wenig es immer noch in der Gesellschaft anerkannt ist, dass auch Männer weinen und dass das vollkommen in Ordnung ist. Die Ärztin, die das Ganze durchgeführt hat, sagte mir nämlich anschließend, wie toll sie es fand, dass ich geweint habe. Weil sie das wohl eher selten sehen würde. Ich habe aber gemerkt, dass mir Weinen ein bisschen Freiheit gibt. Dennoch ertappe ich mich dabei, wie ich in Gesprächen, in denen Mia Thema ist, oder auch im Krankenhaus versuche, mich „männlich“ zu verhalten. Erst in der Psychiatrie habe ich eben gelernt, dass man auch mal vor anderen loslassen kann und sollte. Natürlich war das merkwürdig. Aber man lernt eben, dass daran nichts ist, wofür man sich schämen müsste. Dir wird dort aktiv gespiegelt, dass Rotz und Wasser heulen völlig in Ordnung ist. Ich muss nicht immer dieser vermeintlich „überragenden Männlichkeit“ den Raum geben, sondern auch mal dem verletzlichen Ron. Es ist aber immer noch ein Prozess. Doch ich bin auf einem guten Weg, mir meine Grenzen zu setzen und diese zu respektieren, und damit schaffe ich mir eben auch die Freiheit, mal vor anderen zu weinen.

Sandra: Fühlt sich das auch alles besser für dich an? Gefühle zuzulassen, zu zeigen.

Ron: Ja, auf jeden Fall, weil ich das eben mit Freiheit für mich selbst assoziiere. Aber natürlich kommt man nicht immer gleich stark gegen 30 Jahre Erziehung und soziale Prägung an. Also dieser Gedanke „Das ist doch jetzt albern, wenn du weinst.“ schwingt trotzdem häufig noch mit. Doch der Mehrwert des Weinens ist eben immer größer und das wird dir direkt danach auch sofort bewusst. Und das hilft natürlich sehr auf diesem Weg der Selbstakzeptanz.

Sandra: Was genau hat es mit der Anpassungsstörung bei dir auf sich? Worin äußert sich das?

Ron: Der Anpassungsstörung liegt ein Trauma zugrunde. Also dass man sich auf eine bestimmte Situation oder ein Erlebnis nicht wirklich einlassen konnte. Das Gehirn ist in dem Moment nicht in der Lage, das rational wegzudrücken. Und auch wenn das für manche Menschen komisch klingen mag, für mich ist das eben so: Ich habe einen Teenager verloren. Ich war zwölf Jahre lang für jemanden da. Wer keinen Hund oder ein anderes Haustier mit einer langjährigen Bindung hat, kann das wahrscheinlich nicht nachvollziehen. Aber es ist nun einfach mal so, als würde dein Kind in deinen Armen sterben. Und das habe ich einfach so doll unterschätzt, dass daraus eine Anpassungsstörung resultierte. Dein Gehirn kann sich einfach nicht an diese Situation gewöhnen. Du kannst dich an das neue Leben ohne dein Teenage-Girl nicht anpassen. 

Sandra: Ich habe mir bei unserem Husky Amarog nie bewusst gemacht, dass er irgendwann sterben wird. Bei Tala dann natürlich schon, weil er nach Amarog starb und ich diesbzgl. schon die „Erfahrung“ damit hatte.

Ron: Das mit dem Nicht-Wissen, dass dein Tier irgendwann sterben muss und wird, das kann ich genauso unterschreiben. Ich glaube, das ist eine Art Schutzfunktion unseres Gehirns. Natürlich will man nicht schon vorher trauern. Also verdrängt man den Gedanken, damit man das Leben auch in vollen Zügen genießen kann. Somit war Mia für mich auch unsterblich. Gerade nach der Milz-Operation. 70% aller Hunde sterben nach so einer OP, weil danach häufig eine Einblutung stattfindet. Ich hatte damals eine tolle Tierärztin, die mir von dieser Wahrscheinlichkeit auch gar nichts im Vornherein gesagt hat. Sonst hätte ich wahrscheinlich auch nur noch darüber nachgedacht und mich total fertiggemacht. Ich glaube auch, dass, wenn du der Trauer praktisch schon Vorschub leistest und dementsprechend mit dem Hund umgehst, du ihm vielleicht mit zittriger Stimme auch sagst: „Du gehst irgendwann.“, dann merkt er das auch. Und ich denke, das ist kein gutes Gefühl für das Tier.

Sandra: Wie wird es bei dir jetzt weitergehen?

Ron: Ich stehe jetzt auf einer Warteliste für eine Psychosomatik-Klinik hier in Leipzig. Das ist eine Tagesklinik. Leider ist die Liste aktuell dort sehr lang. Das dauert also noch etwas. Wenn ich dran bin, mache ich dann eine neunwöchige Therapie, die aber eben gezielter auf mein Krankheitsbild ausgerichtet ist. Deshalb verspreche ich mir davon auch sehr viel. In der Psychiatrie funktionierte das ja eher nach dem vorhin angesprochenen Gießkannenprinzip, was nun mal nicht so tiefgreifend ist. Was ich aber der Klinik in Leipzig zugutehalten muss, ist, dass der Pflegeschlüssel dort wirklich gut ist. Wir hatten auf der Station insgesamt 28 Pfleger:innen, die im Durchlauf immer im Einsatz waren, ebenso wie mindestens zwei Stationsärzt:innen. Also dort war ich wirklich gut aufgehoben. Und man kann den Ort in dieser Akut-Situation auch definitiv als Safe-Zone bezeichnen. Und das merkt man spätestens dann, wenn man wieder nach Hause geht. Das nennt sich Belastungserprobung. Dabei muss man sich eben mit dem Ort konfrontieren, an dem die Panik entstanden ist. Das war schon sehr hart. In der Klinik war einfach zu jedem Zeitpunkt jemand da. Diese Hürde war schon extrem, aber ich habe sie überwunden. Also meine Wohnung ist nun auch wieder positiver besetzt. Ich muss jedoch sagen, dass ich erst vor Kurzem einen kleinen Rückfall hatte, weshalb ich auch zu einer kleinen Krisenintervention für zehn Tage im Krankenhaus war. Und das lag einfach nur daran, dass ich Blödmann zu früh wieder arbeiten gegangen bin. Ich habe mich einfach fälschlicher Weise zu früh auf mein gutes Gefühl verlassen. Die Klinik hat mir geholfen und ich dachte: Na, dann bin ich ja auch wieder bereit für Arbeit. Aber es hat nur eine Woche gebraucht, um meinen Schmerz wieder extrem anzukurbeln. Und daraufhin bin ich wieder zur Ambulanz gegangen, um mir in erster Linie informelle Hilfe zu holen, was ich jetzt am besten machen soll. Die Stationsärzt:innen haben mir bei meinem ersten Aufenthalt auch versichert, sollte ich mit Schmerzen wiederkommen, werde ich nicht mit Schmerzen wieder nach Hause geschickt. Und nachdem mit mir erste Untersuchungen durchgeführt wurden, hieß es auch direkt, ich habe auf der Akutstation wieder ein Bett. Danach wurden meine Medikamente auch etwas angepasst. Ich bekomme jetzt zum Beispiel einen Neuroblocker. Dadurch wird versucht, den Schmerz vom Gehirn abzukoppeln. Es ist sozusagen ein Training für mein Gehirn, damit es wieder lernt, dass die Schmerzfreiheit mein Normalzustand ist. Kurz darauf war ich auch noch einmal an der Ostsee und habe dort für mich noch einmal mehr gespürt, dass es mein Gehirn ist, was dafür verantwortlich ist. Ich war dort vier Tage und in dieser gesamten Zeit nahezu schmerzfrei. Die Zeit habe ich gemeinsam mit meiner Mutter verbracht. Ich wollte ihr dafür etwas zurückgeben, dass sie mich sozusagen gerettet hat. 

Sandra: Inwiefern hat dir Musik bei all dem geholfen? 

Ron: Musik hat schon immer einen hohen Stellenwert in meinem Leben eingenommen. Seit einer gewissen Zeit schon mache ich aufgrund anderer Umstände nicht mehr professionell Musik. Mir wurde aber in der Schmerzphase noch einmal mehr bewusst, wie viel mir Musik immer gebracht hat – auch betreffs der Ablenkung im Kopf, wo die Schmerzen ja eigentlich herkommen. Also habe ich mein Musikprogramm wieder angeschmissen und ein, zwei Songs geschrieben. Natürlich war das alles nicht ausproduziert, aber darum ging es auch gar nicht. Es hat einfach geholfen, mich von dem Schmerz etwas abzulenken. Und natürlich habe ich auch vor der Klinikzeit Musik gehört und wahrgenommen, aber andererseits auch bestimmte Bands mehr oder weniger ignoriert. Und als ich in der Klinik war, sind die auf einmal wieder aufgeploppt und haben mich durch die schwere Zeit getragen. Eine von ihnen war unter anderem Moderat. Das ging auch soweit, dass ich zum Sporttherapeuten gesagt habe, dass ich das hier nur mitmache, wenn ich die Musik dabei hören darf. Und das war einfach toll, dass dann damit auch auf meine Wünsche eingegangen worden ist. Das half enorm und gab mir emotionale Stabilität. Die Kehrseite, die damit kommt, ist natürlich, dass jetzt einige der Songs negativ besetzt sind, weil ich sie während meiner schlimmsten Schmerzen gehört habe. Und das geht dann soweit, dass sich das Schmerzgedächtnis auch immer wieder daran erinnert und dementsprechend bei bestimmten Songs auch wieder Schmerzen hervorrufen kann. Aber dem setze ich mich manchmal auch bewusst aus. Ich konfrontiere mich damit und sage mir: Ich lasse mir diese Songs nicht von meinem Gehirn und meinen Schmerzen kaputtmachen. 

Ich hatte auch eine Playlist erstellt, als Mia noch gelebt hat. Die Liste kann ich eigentlich nicht mehr hören. Ich erinnere mich natürlich auch an das Lied, welches lief, als sie gestorben ist. Das kann ich nicht mehr hören und möchte ich auch nicht. Musik kann mich entweder richtig gut fühlen lassen oder eben auch richtig schlecht. Und das liebe ich an Musik. Dass sie so eine Kraft hat. Da nehme ich in Kauf, dass manche Lieder und Bands eben ihre Zeit hatten und irgendwann für mich nicht mehr hörbar sind, aufgrund der Verbindungen. Diese Bedeutung hat für mich Musik auch schon immer. Musik trägt mich emotional schon mein Leben lang. Musik schafft es, eine extreme Gänsehaut bei mir auszulösen, durch einen schönen Melodiebogen oder eine besondere Bridge. Und ich bin auch immer ganz verwundert, wenn man auf Menschen trifft, die das so gar nicht nachempfinden können. Ohne Musik wäre ich weniger glücklich, würde weniger mit mir selbst zurechtkommen.

Dieses Interview wurde erstveröffentlicht in der drunter+drüber-Printausgabe #17 „Tiere und Tod” (Nov 2023).

Porträtfoto Ron Schöne

Über den Interviewpartner: Ron Schöne, geb. 1978 in Leipzig, ledig, Single, keine Kinder, ist Fach-und Führungskräftetrainer bei der Deutschen Post AG. Davor und daneben Laufbahn als (Berufs-)Musiker: 00er Jahre Sänger bei Lazy Bunch, 2008 – 2015 Songwriter und Producer der Elektropopband Camping im Keller, Regie und Schnitt eigener Musikvideos, div. Charteinträge (z. B. Platz 3 in den „European Alternative Charts“ mit „Melancholie EP“ 2011). Seine Labrador-Hündin Mia (Feb 2010 – Juli 2022) musste wegen schwerer Arthrose eingeschläfert werden. Danach erfolgte die Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerz- und Anpassungsstörung (aufgetreten und teilweise ursächlich durch Mias Tod).

Foto: Thomas Wagner

Porträtfoto Sandra Strauß, sw

Über die Autorin: Sandra Strauß, *1978, arbeitet und lebt in Leipzig. Geschäftsführerin und Produzentin, Studio-, Verlags- und Vertriebsleiterin von Glücklicher Montag sowie verantwortlich für Redaktion, Presse, Promotion, Marketing und Management. 

Alle Beiträge/geführten Interviews von Sandra Strauß gibt es hier.

Foto linke Seite: Jan-Markus Holz, lebensart