TINDER FÜR TRAUERNDE
von Eric Wrede
Nutzt noch irgendjemand Tinder? Oder oute ich mich jetzt als Typ, der schon länger nichts mehr mit dem Datingmarkt zu tun hatte? Ist auch egal. Alle, die wissen, wovon ich rede, können bei meiner Erklärung die Augen verdrehen, für alle anderen: Tinder ist eine digitale Plattform, auf der sich zwei oder sicherlich auch mehr Menschen kennenlernen können. Vereinzelt ist dort wohl auch schon die große Liebe gefunden worden, aber meistens entstehen wohl eher kurze Abenteuer oder Affären. Eure Kinder würden sagen „Netflix and chill“. Googelt selber, was das heißt.
Dort auf Tinder präsentiert man sich natürlich von seiner besten Seite. Fotos im Urlaub, schlaue Texte, sexy Selfies. Es gilt, Marktwert zu zeigen. Wie auch sonst auf dem erlauchten Markt der Eitelkeiten.
Jetzt stellt euch vor, dort taucht ein Profil auf, mürrisch schauender Typ, zwei Kinder im Schlepptau und der Text geht ungefähr: „Frischer Witwer. Gerade vier Jahre meine krebskranke Frau gepflegt. Bin meistens zynisch, habe jeglichem Gott abgeschworen, an Liebe glaube ich auch nicht mehr, aber ich habe mal wieder Bock auf Sex.“ Alternativ könnt ihr den Text natürlich auf Frauen und Menschen, die ein weiteres Geschlecht haben, ummünzen. I don’t care. Ihr wisst aber, was ich meine.
Trauernde Menschen sind traurig, deswegen trauern sie ja! Klar! Also für jeden von außen. Wenn man nur zwei Minuten darüber nachdenkt, sieht man, wie zu einfach gefasst dieser Gedanke ist, aber so viele junge und auch alte Menschen müssen entdecken, dass neben ihrer Trauer wieder Bedürfnisse erwachsen. Die einen wollen vielleicht endlich mal wieder ficken, nachdem sie sich Jahre um einen Partner aufopferungsvoll gekümmert, die anderen suchen vielleicht auch schon wieder eine neue Liebe, weil sie sich schon vor langem von dem verstorbenen Menschen entfremdet haben. Die ganz anderen wollen vielleicht einfach nur soziale Kontakte. Reden, Kuchen und Kaffee, aber kein Netflix and chill. Geht ja auch keinen etwas an.
Und es gibt unisono eine Beobachtung. Fast alle, die beim Ausleben ihrer Bedürfnisse scheitern, scheitern an ihrem eigenen Umfeld und den Erwartungen an sich selbst.
Mama wird schief angeschaut, weil sie sich mit Mitte 60 noch nicht mit ihrem Leben als dauerhafte Witwe abgeben möchte.
Papa sollte doch jetzt für seine Kinder da sein, wo seine Frau gerade verstorben ist.
Ab wann darf man denn nun wieder? Also ficken wollen, lieben, sich nicht mehr einsam fühlen? Meine Antwort: gestern. Wirklich. Niemand trauert auch nur eine Sekunde weniger, weil er wieder vor die Tür geht, sich begehrt fühlen möchte oder begehren will. Jeder trauert besser, wenn es einen Weg zurück ins Leben danach gibt. Wie das aussieht, geht keinen, wirklich keinen etwas an. Ganz im Gegenteil, Angehörige von Trauernden sollten zu jedem Zeitpunkt klar machen, dass jeder Schritt in ein Leben danach ein guter ist. Dass es der Erinnerung und der Liebe zum Verstorbenen Menschen keinen Abbruch tut, weil man sich vielleicht neu verliebt oder auch nur sexuell aktiv ist.
Glaubt mir, der Mensch, den das alles betrifft, hat genug Baustellen und braucht nicht noch weitere Wackersteine aus seinem Umfeld im Rucksack.
Wer gründet mit mir ein Tinder für Trauernde? Der Markt ist riesig und wächst ganz sicher.
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in der drunter+drüber-Printausgabe #18 „Sex und Tod” (Mai 2024).
Über den Autor: Eric Wrede ist Bestatter und Trauerbegleiter aus Berlin und Leipzig. Gründer von lebensnah-Bestattungen und kindertrauer-berlin.de
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Foto: Fabian Schellhorn
