„WEIHNACHTEN UND TOD” 15: Weihnachten, Familie, Tod: Warum wir uns so gern belügen

von Eric Wrede

Weihnachten ist für mich jedes Jahr ein Crash:
Die glänzende Oberfläche – und das, was darunter in Familien wirklich los ist.

Vielleicht kennst du das:
Man sitzt beim Essen, alles sieht festlich aus, und gleichzeitig spürt man diese elektrische Spannung im Raum. Alle geben sich Mühe – aber niemand sagt, was wirklich ist.

Ich begleite Menschen in ihren schwersten Momenten. Und genau deshalb fällt mir jedes Jahr aufs Neue auf, wie sehr Weihnachten vom Wunsch lebt, die eigenen Wunden zu übertünchen. Für zwei Tage soll alles heil wirken, obwohl die Wahrheit oft das Gegenteil ist.

Vielleicht ist das das typischste an deutschen Weihnachten:
Alle wollen Harmonie – aber niemand sagt die Wahrheit.

Ich treffe Angehörige, die mir nach dem Tod eines geliebten Menschen erzählen, sie hätten „an Weihnachten etwas aussprechen wollen“. Und fast immer folgt derselbe Satz: „Aber es kam nie der richtige Moment.“
Weihnachten hätte dieser Moment sein können – aber zu oft wird es zur Bühne statt zur Begegnung.

Du kennst vermutlich dieses Skript:
Ein perfekt gedeckter Tisch, heile Stimmung auf Abruf. Und mitten darin eine unsichtbare Spannung, die alle spüren, aber niemand benennt.

Das Problem ist nicht, dass Familien kompliziert sind.
Das Problem ist, dass Weihnachten so tut, als wären sie es nicht.

In Abschiedsräumen erlebe ich oft, dass Menschen zum ersten Mal aussprechen, was sie sich jahrelang nicht getraut haben. Der Tod nimmt uns die Möglichkeit zur Pose – plötzlich bricht alles heraus: Liebe, Sehnsucht, Bedauern, Verletzung.
Alles, was an Weihnachten unter Tradition und Erwartung erstickt wird.

Eine Begegnung hat mich besonders geprägt:
Eine Tochter erzählte mir, sie habe jedes Jahr darauf gewartet, dass ihr Vater „an Weihnachten endlich etwas sagt“. Nur ein Satz, der zeigt, dass er sie sieht.
Der Moment kam nie.
Beide hatten gewartet – und keiner begann.

Vielleicht erkennst du das Muster: Menschen wollen Nähe, wissen aber nicht, wie sie entsteht.
Weihnachten überfordert nicht, weil zu wenig Liebe da wäre – sondern weil zu wenig Mut da ist, sie zu zeigen.

Der Tod lehrt mich jedes Jahr dasselbe:
Die größten Konflikte entstehen nicht durch das Gesagte, sondern durch das, was verschwiegen bleibt.

Und gerade an Weihnachten wird dieses Schweigen ohrenbetäubend.

Es läuft fast ritualisiert ab:
Der Harmoniebedürftige klebt alles zusammen.
Der Verletzte schweigt weiter.
Und Geschenke sollen das ersetzen, was eigentlich gesagt werden müsste.

Aber Geschenke ersetzen keine Gespräche.
Viele benutzen sie genau dafür – als glänzende Ablenkung.

In meiner Arbeit sehe ich, was passiert, wenn die Bühne weg ist:
Menschen reden.
Menschen bereuen.
Menschen entschuldigen sich.
Menschen halten sich fest.

Der Tod bricht den Selbstbetrug auf – und übrig bleibt das, wonach wir uns an Weihnachten eigentlich sehnen: echte Nähe.

Es wäre schön, wenn es dafür nicht erst diesen Moment bräuchte.

Vielleicht hilft ein Gedanke:
Weihnachten scheitert nicht an unseren Familien.
Es scheitert an der Hoffnung, dass zwei dekorierte Tage all die unausgesprochenen Jahre heilen könnten.

Der Anspruch ist zu groß.
Der Druck ist zu hoch.

Was hilft, ist nicht mehr Perfektion, sondern mehr Wahrheit.
Nicht mehr Harmonie, sondern mehr Menschlichkeit.
Nicht mehr Kontrolle, sondern ein einziger ehrlicher Satz.

Vielleicht ein Satz wie:
„Ich halte das gerade nicht aus.“
„Ich vermisse jemanden.“
„Ich möchte nicht so tun, als wäre alles gut.“

Diese Sätze zerstören nichts.
Sie öffnen etwas.

Ich habe gelernt:
Weihnachten funktioniert nur dort, wo die Lüge endet und die Begegnung beginnt.

Und wenn ich ehrlich bin, hoffe ich jedes Jahr ein wenig darauf – für mich, für andere, für diese Gesellschaft:
dass irgendwo zwischen Gans, Glühwein und Geschenkpapier ein Satz auftaucht, der wirklich ist.

Und falls es dieses Jahr wieder nicht klappt, keine Sorge:
Ich sitze auf São Miguel auf den Azoren, schaue aufs Meer – und denke an alle, die gerade um ihre Weihnachtswahrheit herumtanzen.
Vielleicht hilft’s: Manchmal ist der ehrliche Moment näher, als wir glauben.

Porträtfoto Eric Wrede, s/w, von Fabian Schellhorn

Über den Autor: Eric Wrede ist Bestatter und Trauerbegleiter aus Berlin und Leipzig. Gründer von lebensnah-Bestattungen und kindertrauer-berlin.de

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Foto: Fabian Schellhorn