DER EINSAME WOLF
von Denis Bićanić
Die Mitarbeiterin des Sozialamtes wartet schon auf mich vor dem Eingang ins Wohnhaus. Es ist von der Bauart typisch für Leipzig nach dem 2. Weltkrieg, Erdgeschoss und vier Stockwerke ohne Aufzug, eine der städtischen Hauptadern gleich nebenan.
Die Sozialarbeiterin hat mir gestern am Telefon von der Person erzählt, die wir gleich besuchen werden. Ein 80-jähriger Mann, ehemaliger Lehrer, alleinstehend, gesundheitlich angeschlagen und in ziemlich desolater Lebenssituation. Das Sozialamt hat den Hinweis von einem Mitarbeiter der Wohnungsgesellschaft bekommen, der vor ein paar Tagen da war, um die Wasser- und Heizungszähler abzulesen. Da ich mich im Bürgerverein des Viertels für Nachbarschaftshilfe angemeldet habe, möchten wir jetzt gemeinsam meine eventuelle Unterstützung prüfen. Die Frau erklärt, der Einsatz als Alltagsbegleiter sei nur als Brücke gedacht, bis sein Pflegegrad festgestellt wird und der Pflegedienst einsteigt. Sie rechnet mit sechs bis acht Wochen bis dahin, fügt noch hinzu, sie habe Verständnis, wenn ich es nicht machen möchte.
Wir klingeln und warten, bis wir schwere Schritte von drinnen hören. Die Tür geht auf und im Dunkeln des Flurs erscheint Peter und heißt uns willkommen. Wir folgen seinem mühsamen Gang, mit dem er seinen 130 Kilo-Körper in das Arbeitszimmer bringt. Auf den paar Metern durch den Flur füllt sich meine Nase mit dem Geruch von alter Luft, Urin und Staub. Das Arbeitszimmer ist durch die Frühlingssonne hell und Peter lädt uns ein, uns hinzusetzen. Ich mache mir auf der Couch zwischen Kleidungstücken, Briefkastenwerbung und Geschirr Platz und denke mir: „Das ist nichts für mich“.
Es scheint, als ob Peter schon lange keinen Besuch hatte (– später stelle ich fest, dass er auch kein Telefon oder Internet hat). Vielleicht ist er gerade deswegen gut drauf und redselig. Als ich ihm zuhöre, wie er mit Begeisterung über die neue Briefmarkenreihe mit Vogelmotiven, die er am Vormittag mit der Post bekommen hat, erzählt, spüre ich, dass sich etwas in mir verschiebt. Ich sehe Funken der Freude in seinen Augen und mir ist klar: Ich mache es doch.
In den sechs Wochen, bis der Pflegedienst einstieg, wuchs mir Peter ans Herz, und ich beschloss, ihn auch weiterhin zu besuchen. Ich erledigte für ihn Sachen, die vom Pflegedienst und inzwischen organisierter Haushaltshilfe nicht gedeckt waren, wie eine neue Couch zu besorgen oder den Wasserabfluss in der Küche auszuwechseln, eine Spezial-Lupe für Briefmarken zu besorgen oder XXL-Sporthosen zu kaufen. Mit jedem Besuch erfuhr ich mehr über ihn. Er wurde als der ältere von zwei Söhnen im 2. Weltkrieg geboren und ist in der Nähe von Leipzig aufgewachsen. Sein Vater verließ die Familie in den ersten Nachkriegsjahren und kam nie wieder zurück. Es waren schwere Zeiten, gekennzeichnet von bitterer Armut. Dennoch lernte Peter am Beispiel seiner Mutter und ihres Durchhaltevermögens. Er schaffte es, nach der Armee einen Studienplatz zu bekommen und wurde Deutsch- und Geschichtslehrer. Er erzählte stolz von seiner Arbeit und den Zeiten, als er mit seinen Schülern in der Hohen Tatra oder an der Ostsee gezeltet hat. Auch die Erinnerungen an Urlaubszeiten am Schwarzen Meer sowie der Meistertitel von Chemie Leipzig im Jahr 1964 konnten ihn immer wieder aufs Neue erheitern. Er heiratete nie, obwohl er beinahe einer Tschechin ins Netz gegangen wäre. Sein Bruder verschwand über die Mauer in Berlin und meldete sich erst wieder schwer krank und kurz vor seinem Tod. Ein paar Jahre nach seinem Renteneintritt starb Peters Mutter und er zog sich zurück, verlor noch die letzten Kontakte zur Außenwelt. Bis zu dem Moment, als der Zählerableser die Welt wieder auf Peter aufmerksam machte.
Und so kam es, dass ich nun einmal pro Woche bei diesem alten, herzlichen Mann saß und mit ihm den russischen Zupfkuchen aus der Bäckerei gegenüber aß, dass wir gemeinsam die Politik kommentierten und mit Gusto bei jedem Treffen „Bayern München“ beschimpften, die Sendung aus dem Leipziger Zoo im Fernsehen schauten und uns über jeden neuen Tiernachwuchs dort freuten. Wir wurden ziemlich unwahrscheinliche Freunde – ein Ossi, dem der 2. Weltkrieg keine guten Karten in die Wiege gelegt hat, und ein Jugo, der in den 1970er Jahren als Gastarbeiterkind nahe der deutsch-französischen Grenze geboren wurde.
Morgen ziehen Anja und ich zurück nach Bayern. Es ist jetzt mehr als zwei Jahre her, dass Peter und ich uns kennengelernt haben. Wir sitzen wortkarg im halbdunklen Wohnzimmer, das eigentlich auch sein Schlafzimmer ist. Der Fernseher, der bei ihm immer läuft, kann unsere Schweigsamkeit nicht ersetzen. Der Kuchen macht uns heute keinen Appetit und Fußball bringt uns auch nicht in Laune.
Dann ist es soweit – der Moment, Abschied zu nehmen. Ich drücke ihn fest und sage: „Peter, du bist ein Guter.“ Mit Tränen in den Augen antwortet er: „Du auch.“ Ich muss schlucken.
Bei der Tür werfe ich nochmal einen Blick ins Zimmer. Peter hebt seine Hand, ich antworte mit meiner und schließe die Wohnungstür hinter mir.
Es tut verdammt weh.
Anderthalb Jahre später ist Peter am Valentinstag in einem Pflegeheim verstorben. Seine Urne wurde am 08.04.2025 in einem Sozialgrab auf dem Leipziger Ostfriedhof beigesetzt.
Jetzt ist er nicht mehr allein.
In Erinnerung an
Peter Rentzsch
(03.04.1941 – 14.02.2025)
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im drunter+drüber-Magazin #21 „Familie und Tod” (Nov 2025).
Über den Autor: Denis Bićanić – in Deutschland geboren und auf dem Balkan aufgewachsen, Kultursoziologe und Philosoph von Beruf, hauptsächlich im sozialen und humanitären Bereich tätig (unter anderem auch zwei Jahre als Pflegehelfer in einer Hospiz-Gemeinschaft).
