EIN FUNDAMENT AUS LÜGEN

Foto: Edel Music & Entertainment GmbH

von Lars Tunçay

Wieviel wissen wir wirklich über die Menschen, die wir lieben? Die dreiteilige BBC-Serie „Mrs. Wilson“ verbindet die Trauer über den plötzlichen Tod eines Angehörigen mit einem spannenden Detektivplot nach wahren Begebenheiten.

Der Tod hinterlässt Fragen. Eben bereitete Alison Wilson noch das Essen für sich und ihren Mann vor, da liegt Alexander regungslos auf dem Boden seines Arbeitszimmers. Von einem Moment auf den anderen ihrem gemeinsamen Leben entrissen. Der Tod kommt plötzlich, unangekündigt, ohne Abschied. 22 Jahre waren sie verheiratet. Die Söhne Gordon und Nigel sind schon erwachsen. Sie lieben ihren Vater. Wie bringt sie es ihnen bei? Alisons Trauer vermischt sich mit Wut und einer Hilflosigkeit. Sie greift zum Telefon. Noch bevor sie den Krankenwagen anruft, wählt sie die Nummer, die er ihr gab, für den Fall seines Ablebens. Eine Frauenstimme am anderen Ende nimmt die Nachricht von seinem Tod emotionslos zur Kenntnis. „Machen Sie einfach weiter wie bisher.“

Alison war erst 21, als sie Alexander heiratete. Ihr gemeinsames Leben bedeutete ihr alles. Sie wuchs in einem entlegenen Teil der britischen Grafschaft Cumberland auf, entwickelte einen Hang zur Romantik. Sie übernahm eine Stelle als Stenotypistin beim Geheimdienst. Dort lernte sie den MI6-Agenten und Schriftsteller Alexander Wilson kennen. Der 25 Jahre ältere Mann wirkte extrem charmant, die Frauen lagen ihm zu Füßen. Er machte ihr den Hof, sie verliebte sich. Der Krieg schweißte sie zusammen. Doch es gab immer wieder Geheimnisse. Alexander verschwand für längere Phasen, auch als die Kinder da waren. Er wurde verhaftet und öffentlich vorgeführt für das unrechtmäßige Tragen einer Uniform. All das diene nur der Tarnung und habe mit seiner Tätigkeit als Spion zu tun, erklärte er ihr. „Man erzählt so schreckliche Dinge über dich.“ – „Aber du weißt doch, wer ich bin.“ Aber wusste sie das wirklich?

Nur wenige Tage nach Alexanders Tod klingelt es plötzlich an der Tür. Dort steht eine fremde Frau und behauptet, sie sei Gladys Wilson, Alexander Wilsons Ehefrau. Alison will davon nichts wissen, aber Gladys schickt ihren Sohn Dennis, um die Leiche zu überführen. Alison strengt Nachforschungen an, stellt ihre ehemalige Vorgesetzte, die kettenrauchende Coleman, zur Rede. Mit jedem Schritt offenbaren sich neue Abgründe. Jeder Abgrund führt sie weiter weg von dem, was sie über Alexander zu wissen glaubte. Sie versucht zu verstehen, warum er handelte, wie er es tat, um endlich um ihn trauern zu können. Gleichzeitig muss sie aber auch für ihre Söhne da sein. 

Ruth Wilson verkörpert ihre Großmutter Alison mit beeindruckender Stärke und emotionaler Tiefe. „Sie starb, als ich 22 war. Ich kannte sie also relativ gut“, erklärt die Darstellerin. „Manchmal fühlte ich die Emotionen meiner Großmutter durch mich durchfahren, als würde ich meinen eigenen Körper verlassen.“ Ruth Wilsons emotionale Darstellung ihrer Großmutter Alison wirkt real und einnehmend. Sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen, erfordert Mut. Um die unglaubliche, aber wahre Geschichte für ein Drehbuch zu adaptieren, wurde die Autorin Anna Symon beauftragt. Symon begann als Dokumentarfilmerin und war als Drehbuchautorin tätig, als die BBC auf sie zutrat. Sie gaben ihr die Tagebuchaufzeichnungen von Alison zum Lesen und nach der Hälfte wusste sie, nach eigener Aussage, dass sie die Geschichte erzählen wollte. Sie vertiefte sich in die Aufzeichnungen von Alison und recherchierte das Leben von Alexander. Sie arbeitete sich monatelang durch die privaten Notizen und die Menge an Material über den Schriftsteller, um sich ein Bild zu machen. „Die Geschichte spannt sich über viele Jahrzehnte und konnte unmöglich gradlinig erzählt werden“, erklärt Symon. In ihrer Nacherzählung vermischen sich die Zeitebenen immer wieder. Die Vergangenheit beeinflusst die Gegenwart. 

Bei der Arbeit stellte sich Alison als Protagonistin heraus. „Ich war viel mehr interessiert an ihrer Geschichte als an der von Alexander“, sagt Symon. „Es gab bereits viele Bücher, Filme und Geschichten über das Leben von Spionen und die Schwierigkeit, ihre Profession mit dem Privatleben zu vereinbaren. Die Geschichte, die ich erzählen wollte, handelte von der Ehefrau eines Spions.“ Es war Anna Symons Idee, sie mit dem Ende zu beginnen, Alexanders Tod im Jahre 1963. So konzentriert sich die Serie auf Alisons Perspektive. Wir erfahren gemeinsam mit ihr von den Abgründen, die sich vor ihr auftun. Daraus bezieht der Dreiteiler einen großen Teil der Spannung. „Wir gehen mit Alison auf eine Art Reise, um herauszufinden, wer Alexander war, durch die Augen einer emotional belasteten Detektivin. Wir sind bei jedem Schritt dabei, wenn sie herausfindet, mit wem sie verheiratet war.“ Dieser Ansatz setzt eine Mischung aus Flashbacks in ihr Leben zur Zeit des Krieges und Szenen in der Zeit, unmittelbar nach seinem Tod voraus. Diese emotional miteinander zu verbinden, ist eine Herausforderung, die „Mrs. Wilson“ glänzend meistert. Alisons Entscheidungen, vor allem ihre beiden Söhne betreffend, sind immer rational, meist emotional motiviert. Das macht Alison nicht uneingeschränkt zur Sympathiefigur, aber verleiht ihr auch Konturen und macht sie zu einer Figur aus Fleisch und Blut.

„Mich interessierte, wie wir als Menschen unsere eigenen Geschichten erfinden und wie weit wir gehen, um diese zu verteidigen, wenn sie in Frage gestellt werden“, erklärt Symon.  Das Netz der Lügen, dass sich mit jeder einzelnen verdichtet, bis es keinen Ausweg mehr gibt. Hier liegt auch das Verständnis, das Alison für Alexander entwickelt. Es geht ihr immer vor allem darum, seine Motivation nachzuvollziehen, zu erfahren, wer er war, warum er handelte, wie er handelte, und dieses Bild mit dem abzugleichen, das sie von ihm – resultierend aus mehr als 20 gemeinsamen Jahren – hat. Tat er die Dinge, die er tat, aus Überzeugung und mit guter Absicht?

Alison hinterfragt, welche Schuld sie selbst auf sich geladen hat, wie diese Lügen auch auf sie abfärben. Wie sie ihn in Schutz nahm, seine wahre Profession selbst vor ihren Kindern verheimlichte. Was macht das mit ihr über all die Jahre hinweg? Ein Spiegel ist da ihr Verhältnis zu den Kindern und das ihrer Söhne zu ihr. Ihre Beziehung wirkt kalt, distanziert. Die Momente, die Alexander mit den Söhnen verbrachte, werden mit Wärme gezeigt. Ihre eher als Pflichterfüllung.

Für Drehbuchautorin Anna Symon war es nicht nur herausfordernd, die Lücken in der Geschichte zu füllen, sondern auch herauszufinden, was davon wirklich wahr ist. Wie Alison versuchte sie, Alexander zu verstehen, und jedes Mal, wenn sie glaubte, ihn zu verstehen, tauchten neue Beweise auf, die sie daran zweifeln ließ, was sie zuvor über ihn gedacht hatte. „Diese Erfahrung versuchte ich in meinem Drehbuch wiederzugeben, so dass der Zuschauer ebenso ständig in Frage stellt, was er über Alexander glaubt zu wissen. War er ein normaler Mensch mit Fehlern oder war er ein kompletter Hochstapler?“ Hinzu kam, dass jeder, mit dem sie sprach, ein anderes Bild von Alexander Wilson hatte. Ebenso wie die Erfahrungen, die Alison bei ihren Nachforschungen macht. Wie die Nachbarin, der Mitarbeiter im Krankenhaus, selbst seine Söhne immer wieder betonen, was für ein guter Mann Alexander Wilson gewesen ist und sie ihre Wahrheit immer wieder in Frage stellt.

Die absolute Wahrheit herauszufinden, war aber auch für Symon nicht möglich. Die Akten über Alexander Wilson im britischen Auswärtigen Amt bleiben weiterhin unter Verschluss. Seine Familie versucht seit Jahren, eine Herausgabe der Akten zu erwirken, aber der Inhalt sei nach wie vor „sensibel für die Sicherheit“ des Landes. 

So unglaublich wie sie klingt, ist die Geschichte dennoch universell – wie viel wissen wir wirklich über die Menschen, die wir lieben? „Es hat mich wirklich fasziniert, dass viele Menschen, mit denen ich über die Geschichte sprach, meinten, etwas Ähnliches habe es in ihrer Familie gegeben“, sagt Anne Symon. „Eine unerzählte Wahrheit, ein Doppelleben, eine weitere Ehefrau, eine zweite Familie. Es scheint, als sei dies damals wesentlich weiter verbreitet gewesen, in einer Zeit vor Handys und Social Media.“ Im Zentrum der mitreißenden Geschichte steht Alisons Streben nach Wahrheit in einer Welt der Lügen. Aber auch ihre unerschütterliche Liebe und die Kraft zu vergeben. Für Ruth Wilson, die das Projekt auch als Produzentin vorantriebt, war es schmerzhaft, sich mit der Geschichte ihrer Familie auseinanderzusetzen. „Für mich war es trotzdem eine extrem positive Erfahrung. Es hat die Familie näher zusammengebracht.“

„Mrs. Wilson“
(Miniserie, 3 Folgen, 2018)
Regisseur: Richard Laxton
Produzent: Jackie Larkin
Autorin: Anna Symon
Musik: Anne Nikitin

Besetzung:
Alison Wilson: Ruth Wilson
Alexander Wilson: Iain Glen
Gordon Wilson: Calam Lynch
Nigel Wilson: Otto Farrant
Coleman: Fiona Shaw

Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im drunter+drüber-Magazin #21 „Familie und Tod” (Nov 2025).

Porträtfoto Lars Tuncay von Christiane Gundlach

Über den Autor: Lars Tunçay blickt als freischaffender Filmjournalist leidenschaftlich auf die Leinwand und dahinter. Für den MDR ist er als Hörfunk-Redakteur tätig, für den Kreuzer Leipzig als Kinokritiker. Daneben moderiert er Publikumsgespräche mit Filmschaffenden und lädt einmal im Monat zum Filmriss Filmquiz in die Moritzbastei.

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Foto: Christiane Gundlach