„WEIHNACHTEN UND TOD” 19: Magdeburger Weihnachtsmarkt
von Steven Grahl

Wie an jedem Abend um ca. 19 Uhr saßen meine Partnerin und ich am Abendbrottisch. Sie ist schwanger mit unserem ersten Kind. Ein Junge und ein Wunschkind. Das letzte Weihnachten zu zweit steht an.
Besinnlich soll es werden. Die Planung steht. Jeder weiß, wann er wo zu sein hat. Man kennt es, die berühmten Tage vor dem 24. Dezember.
Ich bin Seelsorger im Ehrenamt. Seit mehr als neun Jahren begleite ich Menschen durch schwere Situationen. Nicht nur Betroffene selbst, sondern auch Einsatzkräfte nach belastenden Einsätzen. Niemand soll allein bleiben und schon gar nicht allein mit etwas fertig werden müssen.
An diesem Abend, bei einem Tee und den letzten Absprachen zu den kommenden Tagen, blinkte mein Handy kurz auf. Eine Pushnachricht: Vorfall in Magdeburg.
Magdeburg, ein Stück Heimat. Ich stamme aus der Nähe, kenne die Stadt gut. Klassenfahrten führten uns oft dorthin. Ein Teil meiner Kindheit fand dort im McDonald’s am Hauptbahnhof oder im Allee-Center statt.
Auch meine Familie, glühende FCM-Fans, kennen jeden Weg, vor allem Richtung Stadion.
Ich wohne in Halle (Saale). Diese kleine Rivalität beider Städte kennt jeder hier. Es gibt kleine Neckereien, obwohl ich selbst kein Fußballfan bin.
Ich dachte: Was ist denn da schon wieder los in Magdeburg. Normal, wie in Halle auch, berichten die Medien von einer Demo oder dass die heimische Mannschaft groß gewonnen hat.
Doch hier und heute war etwas anders. Es folgten weitere Pushmeldungen: Unfall, Tote, Verletzte und Weihnachtsmarkt. Ich nahm das Handy in die Hand und sah das erste Video. Ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit fährt durch eine Menschenmenge. Ich weiß noch, dass ich kurz meine Gedanken ordnen musste. Ich kenne den Ort. Unzählige Male war ich dort. Meinen ersten Glühwein habe ich dort bekommen.
Die Gedanken wichen. Handy ans Ohr. Ich rief meine Mutter an.
Die Begrüßung war nicht wie immer. Sie weinte und suchte nach Worten. Wenige Minuten vorher versuchte sie meinen Bruder und seine Freundin zu erreichen, welche an diesem Tag überlegten, diesen Weihnachtsmarkt zu besuchen. Er ging erst nach einigen Versuchen an das Telefon, aber Entwarnung: Sie waren nicht gefahren.
Es war das zweite Mal in meinen jungen Jahren, dass meine Mutter und ich ein solches Telefonat führten. Eines, bei dem es darum geht, dass etwas Schlimmes passiert ist und es um Leben geht. Zuletzt beim Anschlag in Halle, als ich ihr sagen konnte: „Mutti, mach dir keine Sorgen.”
Keine Sorgen machen, während die Bilder immer schlimmer werden.
Mein zweiter Anruf an diesem Abend ging nahezu reflexartig an meine Teamleitung. Ich erinnere mich, dass ich nur sagte: Sie werden bestimmt Hilfe brauchen. Wenn was ist, ich fahre los.
Magdeburg ist gut aufgestellt mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Allerdings wussten wir nicht, was da noch alles kommt.
Dann kam der Anruf. Meine Teamleitung war in Magdeburg und mit der Koordination betraut. Wie vermutet, waren die ortsansässigen Teams gut aufgestellt und mit Zeugen und Betroffenen in Gesprächen. Nun galt es, die Feuerwehren und Rettungsdienste zu betreuen. Und dort wurde ich gebraucht.
Ich habe meinen Ablauf, wenn ich mit einer Feuerwehr rede. Ich kenne die Strukturen, da ich selbst lange einer Feuerwehr angehörte. Ich habe meinen Leitfaden. Doch was mache ich hier. Ich werde gleich auf eine Feuerwehr treffen, die in Worte fassen soll, wofür es noch keine gibt.
Ich ließ es auf mich zukommen.
Plötzlich saßen wir da. Zwei Seelsorger, ein Kollege aus Wernigerode und ich. Kurze Absprache: Ich leite, er bewacht und schaute auf die Emotionen, dass niemand übersehen wird. Vor uns saßen ca. 20 Menschen in Uniform. Zwei Nächte, nachdem es passiert war und doch keine Minute ruhiger. Weihnachten wirkte so fern.
Sie erzählten, jeder aus seiner Sicht, wie er es erlebt hatte. Es sollte ein normaler Tag sein und am Abend ein kleiner Weihnachtsmarkt für die Kinder stattfinden. Die Vorbereitungen liefen, als der Alarm kam.
MANV Magdeburg Weihnachtsmarkt VKU
Kurz übersetzt: Massenanfall von Verletzten nach Verkehrsunfall am Weihnachtsmarkt.
Ein Unfall. Vielleicht ist jemand von der Kupplung gerutscht und hat eine Bude erwischt, dachten die Kameraden erst. Eine meiner ersten Fragen ist immer, wann sie merkten, dass der Einsatz nicht normal ist. Die Antwort: Als man alle mit medizinischem Wissen sofort auf Fahrzeuge setzte, die direkt losfahren mussten. Das ist unüblich.
Die restlichen Kameraden fuhren ebenso los, im Glauben, einen Unfall zu betreuen.
Meist erfolgt auf der Anfahrt eine grobe Aufgabenverteilung, damit klar ist, was am Einsatzort geschehen soll. Doch hier gab es kein klares Bild. Sie hielten an einer Zufahrt zum Markt, unmittelbar in der Nähe, wo die Amokfahrt begann.
Ab diesem Moment sprachen die Kameraden nur noch von einem Schlachtfeld. Ich versuchte ein anderes Wort zu finden, aber es ließ sich nicht anders beschreiben.
Die Feuerwehr, besonders die freiwillige, arbeitet nach Dienstvorschriften und Ausbildung. Wie lege ich eine Leiter an, welchen Knoten nutze ich, wie schneide ich Menschen aus Autowracks. Aber es gibt keine Ausbildung, die einem sagt, wie man auf einen Weihnachtsmarkt geht, auf dem die Lieder verstummten und Schreie, Hilferufe und Hilflosigkeit herrschten.
„Wir haben einfach angefangen.”
Sie gingen zu den Menschen, drückten Wunden, versuchten zu beruhigen.
Mehr als vier Stunden lang, unter dem Donnern von Polizeihubschraubern, zwischen Mullbinden und Tränen.
Das waren die Bilder, die diese Menschen in ihren Köpfen hatten. Es fragte keiner nach dem Warum in diesem Moment. Jeder kämpfte seinen eigenen Kampf mit dem, was er sah und fühlte.
In solchen Runden gibt es die Regel, dass, wenn jemand weint, wir ihm den Raum dafür geben und die Runde kurz davon weglenken. Damit niemand sich schämt. Doch an diesem Tag waren die Tränen stumme Begleiter. Sie mussten ihren Weg finden.
Es war kein Hass zu spüren, wie man vermuten könnte. Es war Ohnmacht, die im Raum hing. Sie hatten den Einsatz noch in den Knochen.
Ich hörte zu. Das Gespräch führte sich anhand ihrer Erfahrungen fast von selbst.
Zum Abschluss fragte ich nach dem stärksten Bild, das geblieben ist. Es war mehr ein Gefühl, als ein Bild. Das Gefühl, dass sie nie allein waren. Andere Kameraden, Polizei und Rettung waren immer da. Und es wirkte, als wäre im Chaos ein Zahnrad entstanden, das ohne Worte lief.
Zum Schluss blieb die Frage:
Warum hier.
Warum Magdeburg.
Warum auf unserem Weihnachtsmarkt.
Es ist doch unser Zuhause.

Über den Autor: Steven Grahl war über 13 Jahre im IT-Vertrieb tätig. Gleichzeitig engagiert er sich seit vielen Jahren ehrenamtlich in der Notfallseelsorge und begleitet Einsatzkräfte sowie Menschen in schweren Momenten.
Ende 2025 hat er sich bewusst für einen neuen beruflichen Weg entschieden und arbeitet nun für das Flamarium Saalkreis. Für ihn steht dabei der Mensch im Mittelpunkt: zuhören, da sein, Halt geben. Seine Erfahrungen aus beiden Welten prägen sein Schreiben und sein Handeln.
Foto: Madlen Lohman (Maloh Fotografie)
