NACHRUF AUF JANE GOODALL – ein Herz für die Wildnis

von Anna Manz
Sie saß still im Gras, das Notizbuch auf den Knien, und beobachtete. So begann eine der größten Geschichten der modernen Naturforschung. Jane Goodall, die Frau, die unser Verhältnis zu den Tieren veränderte, ist am 1. Oktober 2025 im Alter von 91 Jahren gestorben. Doch ihre Spuren – in der Wissenschaft, im Naturschutz und in unzähligen Herzen – werden bleiben.
Jane wurde 1934 in London geboren und wuchs in der südenglischen Küstenstadt Bournemouth auf. Bereits zum ersten Geburtstag schenkte ihr Vater ihr einen Stoffschimpansen – als hätte er geahnt, wohin ihr Herz sie eines Tages führen würde. „Jubilee“ wurde zu Janes Lieblingsspielzeug und steht bis heute in ihrem Haus in England. Womöglich lag es ja an dem Plüschprimaten, dass sie schon als kleines Mädchen von allem begeistert war, was krabbelte, flatterte oder bellte. Kein Tier war ihr zu unscheinbar, kein Lebewesen zu klein für ihre Aufmerksamkeit.
Jane war zum Beispiel so fasziniert davon, wie Regenwürmer sich ohne Beine fortbewegen, dass sie kurzerhand einige ihrer „Freunde“ mit ins Haus brachte. Im Alter von vier Jahren trieb Jane dann die Frage um, wie Hühner ihre Eier legen, und verschwand so lange in einem Hühnerstall, dass ihre Eltern schließlich die Polizei riefen. Ein paar Jahre später entdeckte Jane die Geschichten von Dr. Dolittle und Tarzan für sich. Besonders Letzterer hatte es ihr angetan: „Ich hab‘ mich leidenschaftlich verknallt in diesen prächtigen König des Dschungels“, sagte sie einmal. „Und was hat er dann gemacht? Er hat die falsche Jane geheiratet!“
Der Weg nach Afrika
Die Liebe für Tarzan ebbte mit der Zeit ab, nicht jedoch Janes Traum, wie er im Dschungel inmitten wilder Tiere zu leben. Als eine Schulfreundin Jane im Jahr 1957 bat, sie nach Kenia zu begleiten, sollte sie das diesem Traum einen großen Schritt näher bringen. Denn dort traf sie den Anthropologen Louis Leakey. Obwohl Jane aufgrund der finanziellen Lage ihrer Familie keine traditionelle naturwissenschaftliche Ausbildung hatte, erkannte er in ihr eine außergewöhnliche Beobachterin. 1960 schickte Leakey sie in die damals noch wenig erforschte Wildnis des heutigen Gombe-Stream-Nationalparks in Tansania, um Schimpansen zu studieren – ein Unterfangen mit vielen Unsicherheiten.
Dass eine weiße, blonde Frau in den 1960er Jahren in einem afrikanischen Wildreservat forschen würde – das war außergewöhnlich, riskant, mutig. Die politischen und gesellschaftlichen Umstände dort waren nicht einfach: Tansania kämpfte noch mit den Folgen der Kolonialzeit, während in den angrenzenden Ländern Konflikte und Unruhen herrschten. Hinzu kamen die infrastrukturellen Mängel des abgelegenen Gombe-Wildreservats und nicht selten Skepsis oder Ablehnung gegenüber der jungen Forscherin. Dass Gombe kein komfortables Labor, sondern Wildnis war, traf jedoch genau Janes Geschmack: Sie ging barfuß oder mit einfachen Feldschuhen, lebte unter den Schimpansen und begann, sie nicht nur als Objekte, sondern als individuelle Wesen zu erkennen. Sie gab den Tieren Namen und sprach von ihnen als „wer“, nicht als „was“ – revolutionär für ihre Zeit.
„Wir müssen den Menschen neu definieren.“
Und auch was Jane in Gombe fand, war revolutionär. Sie erkannte, dass Schimpansen Individuen mit Persönlichkeiten sind: Sie spielten, hatten Gefühle, trauerten umeinander. Im Herbst 1960 beobachtete Jane dann, wie der Schimpanse „David Greybeard“ aus einem Ast ein Werkzeug baute, um Termiten aus ihrem festungsartigen Bau zu angeln. Damit war bewiesen: Nicht nur Menschen bauen und benutzen Werkzeuge. Diese Beobachtung erschütterte das damalige Weltbild der Wissenschaft, dem zufolge der Mensch als unangefochtene Krone der Schöpfung galt. „Dann müssen wir jetzt entweder den Menschen neu definieren oder den Werkzeugbegriff oder Schimpansen als Menschen akzeptieren“, soll ihr Mentor Leakey daraufhin kommentiert haben.
Doch mit der Zeit offenbarte sich auch eine andere Seite des Dschungels. Jane sah, wie die Tiere, die sie so liebte, Kriege gegeneinander führten, Jungtiere töteten und sich sogar gegenseitig fraßen. Schimpansen, das erkannte sie, konnten genauso grausam, berechnend und aggressiv sein wie Menschen. Diese Erkenntnisse waren schmerzhaft – und zugleich wegweisend. Denn sie machten deutlich, dass die Grenzen zwischen Mensch und Tier nicht nur dort verschwimmen, wo Empathie und Intelligenz ins Spiel kommen, sondern auch in den dunkleren Facetten des Verhaltens.
Vielleicht war es auch diese Erfahrung, die Jane später einmal sagen ließ, Schimpansen seien nicht ihre Lieblingstiere. Sie liebte sie, ja – aber sie kannte sie zu gut, um sie zu idealisieren. Ihre wahren Favoriten, gestand sie, seien Hunde: treu, ehrlich und – im Gegensatz zu uns Menschen und den Schimpansen – zu keiner Grausamkeit aus purem Kalkül fähig.
Von der Beobachterin zur Aktivistin
Doch gerade weil sie die Schimpansen so genau kannte, wurde Jane bewusst, wie verletzlich ihre Welt ist. Ihre Beobachtungen machten ihr klar: Wer die Natur wirklich versteht, spürt auch die Verantwortung, sie zu bewahren. All das, was wir der Natur antun, hat Konsequenzen. Aus der leidenschaftlichen Forscherin wurde so nach und nach eine unermüdliche Aktivistin, die nicht nur Daten sammeln, sondern Herzen öffnen wollte.
In Büchern wie „In the Shadow of Man“ und „Reason for Hope“ brachte Jane im Laufe ihres Lebens Millionen Lesern die Welt der Schimpansen und ihre eigene Lebensphilosophie näher. 1977, nach einem Vierteljahrhundert im tansanischen Dschungel, gründete sie außerdem das Jane Goodall Institute, das sich für einen respektvollen Umgang mit Menschen, Tieren und der Umwelt einsetzt. Später kam das Jugendprogramm Roots & Shoots hinzu, das heute in über 130 Ländern aktiv ist und junge Menschen darin bestärkt, selbst Verantwortung für Tiere, Umwelt und Gemeinschaft zu übernehmen.
Für ihr Engagement erhielt Jane zahlreiche internationale Ehrungen – darunter den renommierten japanischen Kyoto-Preis, den Ghandi-King-Preis für Gewaltfreiheit und den Tyler-Preis für Umweltleistungen. Darüber hinaus wurde die Forscherin von Queen Elizabeth II. zur „Dame Commander of the Order of the British Empire“ geadelt und mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert. Auch in ihren letzten Jahren reiste Jane noch rund 300 Tage im Jahr um die Welt, hielt Vorträge, sprach mit Schulklassen, forderte zum Handeln auf – und hatte dennoch Sorge, nicht genug für den Planeten zu tun.
Mehr als eine Forscherin
Ihr Vermächtnis ist vielschichtig: Jane Goodall veränderte unser Verständnis davon, was Tiere sind – und was es heißt, Mensch zu sein. Sie zeigte, dass Schimpansen keine instinktgesteuerten Wesen sind, sondern fühlende Individuen mit Beziehungen, Emotionen und eigener Kultur. Damit verschob sie die Grenze zwischen Mensch und Tier, und mit ihr das Selbstbild unserer Spezies. Doch Jane war mehr als eine Forscherin: Sie war eine Übersetzerin zwischen den Welten. Ihr gelang, was kaum jemand vor ihr geschafft hatte: die Kluft zwischen Wissenschaft und Mitgefühl zu überbrücken.
Ihr Lebenswerk steht damit für eine stille, aber tiefgreifende Revolution. Jane Goodall lehrte uns, dass Wissen ohne Empathie leer bleibt – und Empathie ohne Handeln folgenlos. Sie forderte uns auf, beides zu verbinden. In einer Welt, in der die Natur immer stärker unter Druck steht, klingt ihre Botschaft heute dringlicher denn je. Danke, Jane. Hoffentlich enttäuschen wir dich nicht.
Über die Autorin: Anna Manz (*2000) ist Wissenschaftsjournalistin und schreibt für verschiedene Online-Wissenschaftsseiten. Ihr Kernthema ist die Biologie. Besonders interessiert sie das Zusammenspiel von Mensch und Natur – und was wir daraus lernen können.
Foto: privat
