WENN DIE ERINNERUNG AN TOTE ANGEBLICH DIE TOTENRUHE STÖRT.

Eine versehentliche Polizeiintervention in Berlin.

von Holger Kulick

„Kreuzberger Nächte sind lang“ heißt es in einem populären Schunkelsong aus dem Jahr 1978, Kreuzberger Friedhofsnächte sind es nicht. Dafür sorgt im Zweifel die Berliner Polizei. Aber warum? Weil nicht jeder Friedhofsrecht und Kirchenrecht kennt. Und Berliner Friedhofsgeschichte schon gar nicht.

Deshalb etwas ausgeholt: 221 Friedhöfe gibt es in Berlin, 118 davon gehören der Evangelischen Kirche. Doch immer weniger Gemeinden können sich die Kosten für das Personal, die Instandhaltung, Grünpflege und den Grabdenkmalschutz leisten. In Berlin hat das 2009 zur Gründung eines Solidarnetzes geführt, das mittlerweile 45 Friedhöfe umfasst, zusammengeschlossen im Evangelischen Friedhofsverband Berlin (www.evfbs.de). Einer der Leitsätze aus der Gründungsphase: 

„Die Verdrängung des Sterbens aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Todes hat zu gravierenden Veränderungen des Bestattungswesens geführt. Die „anonyme“ Bestattung droht zum Regelfall zu werden. Zu dieser problematischen Entwicklung gehört auch das Bestreben zur Privatisierung des Bestattungswesens, vor allem die Aufhebung des Friedhofszwangs, verbunden mit Bestattungsformen ohne individuelle Grablegung als Ort der Trauerbewältigung und Erinnerung. Der Ev. Friedhofsverband Berlin Stadtmitte sieht sich hier in der Verpflichtung, an der Weiterentwicklung einer Bestattungskultur mitzuwirken, die der Anonymisierung des Todes und damit dem Vergessen derer, die vor uns gelebt haben, entgegentritt“.

Dazu gehört es auch, an Tote zu erinnern und Lebensgeschichten wachzuhalten, vor Ort auf dem Friedhof, in einem angedachten Friedhofsmuseum und künftig auch virtuell, wenn die Mittel es hergeben. Jährlich gibt es aus diesem Anlass auch einen langen Abend der Friedhofskultur, stets zu Sommeranfang am längsten Tag des Jahres und jeweils auf einem anderen Friedhof in Berlin. An ausgewählten Gräbern werden kurze Vorträge über die Biografien und gesellschaftliche Denkanstöße der dort Beigesetzten gehalten, manchmal werden auch Musikstücke gespielt, wenn dort ein Komponist oder Instrumentenbauer beerdigt liegt, Texte von Literat:innen und Philosoph:innen vorgetragen oder kleine Theaterminiaturen aufgeführt, die auf dort Beigesetzte zurückgehen. Der Zulauf ist beachtlich, das Interesse an den Lebensgeschichten groß. In diesem Jahr kam alles jedoch anders.

Ausgesucht worden war in diesem Jahr der Friedhof Dreifaltigkeit II im gutbürgerlichen Kreuzberger Bergmannkiez, angelegt vor genau 200 Jahren. „Bringt eure Taschenlampen mit!“, stand als Aufforderung unter der Einladung. Nach einem „Segen to go“, einer musikalischen Begrüßung durch ein Quartett Berliner Philharmoniker und dem Vortrag eines Friedhofshistorikers starteten vier Führungen auf unterschiedlichen Parcours über das Friedhofsterrain und an jedem Grab einer dort beigesetzten Persönlichkeit gab es anschauliche Lebensweginformationen. Doch jäh wurden die Rundtouren plötzlich abgebrochen. Die Polizei war vorgefahren, weil eine Anwohnerin Anzeige erstattet hatte, wegen angeblicher Störung der Totenruhe. Die verblüfften Friedhofsverbandsverwalter:innen konnten sich den Mund fusselig reden, weil es doch genau um das Gegenteil gehe, eine Totenehrung, aber nicht Totenruhestörung. Der Polizeieinsatzleiter beharrte aber auf sofortigem Abbruch der Veranstaltung, die Klageführerin grinsend im Hintergrund. Eine Räumung sei sonst nicht ausgeschlossen.

Auch ich hatte einen Vortrag übernommen, über einen Zeitgenossen fast aus der Gegenwart, auch das gehört bei den Führungen in der „Friedhofsnacht“ dazu, in dem Fall über den langjährigen Kreuzberger Anwalt, Innenpolitikexperten  und Bundestagsabgeordneten Christian Ströbele, der vor drei Jahren im Alter von 83 verstorben war. „Ein Polizeieinsatz just an seinem Grab, das könnte sogar Ströbele zum Leben erwecken“, scherzte eine ältere Besucherin, bevor die Menge kopfschüttelnd den Friedhof verließ.

Die mit Recht empörte Verwaltung legte allerdings Beschwerde bei der Polizei ein, am Ende mit überraschendem Erfolg und Aussicht auf eine Friedhofsnacht-Wiederholung. Denn die zuständige Polizeidirektion entschuldigte sich einige Wochen später überraschend freundlich und offen mit einem zweiseitigen Schreiben aus dem hervorgeht, dass der Einsatzleiter schlicht zu weit gegangen war, eine „Fehlentscheidung der Dienstkräfte“ habe vorgelegen, „diesen Umstand bitte ich zu entschuldigen und kann Ihnen im Namen der Berliner Polizei nur mein Bedauern ausdrücken“, schrieb Mitte August der zuständige Polizeidirektor an den Friedhofsverband. Weder seien nennenswerte Lärmemissionen vom Grundstück nach außen gedrungen noch habe es sich um eine kommerzielle Veranstaltung gehandelt. Außerdem sei der Friedhofsverband Träger des Friedhofs, „somit übten Sie das Hausrecht aus und waren berechtigt, auf dem Gelände eine Veranstaltung durchzuführen“. „Leider“ hätten die Dienstkräfte am 29. Juni 2025 nicht über dieses Wissen verfügt „und konnten viele Details aufgrund der fortgeschrittenen Zeit auch nicht in Erfahrung bringen“. Der Polizeirechtsexperte Ströbele hätte jetzt bestimmt geschmunzelt.

„Wie nah sind uns manche Tote, doch
Wie tot sind uns manche, die leben“

Ein Biermann-Konzert in Berlin. Nur für Friedhofsbeschäftigte.

Es ist nicht selten, dass Friedhofsbesucher und -besucherinnen mit Blick auf ihren künftigen Tod Friedhöfe besichtigen und für sich und ihren Nächsten schon Grabstellen reservieren lassen. In Berlin hat sich auch der bald 89 Jahre alte Liedermacher Wolf Biermann, der 1976 folgenreich aus der DDR ausgebürgert worden war, schon vor Längerem auf eine solche Friedhofssuche begeben und dabei auf famose Weise auf die Bitte von Friedhofsarbeiterinnen im Evangelischen Friedhofsverband reagiert, im Gegenzug für ihre Führungen doch einmal Lieder im kleinen Kreis nur für Friedhofsbeschäftigten vorzutragen, die er zum Thema Tod und Leben getextet hat. Am bekanntesten davon sind seine Lieder über Friedhöfe wie Montmartre in Paris mit dem Grab Heinrich Heines und über den „Hugenottenfriedhof“ in Berlin mit der Ruhestätte von Bertolt Brecht und Helene Weigel. Biermann zögerte nicht und sagte spontan zu.

Als Ort wurde die von James Turell gestaltete Kapelle auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ausgesucht und Anfang September 2025 gab der Liedermacher dort tatsächlich vor rund 50 Friedhofsbeschäftigten ein kostenloses Konzert. „Ihr seid ja meine zukünftigen Pfleger, deshalb habt ihr das verdient“, scherzte er und stellte sich nach dem zweistündigen Auftritt mit seiner Frau Pamela an der Seite noch neugierigen Fragen. Friedhöfe wie der „Doro“ fußläufig zu seiner alten Ost-Berliner Wohnung gelegen, so erläuterte er, seien sein täglicher Rückzugsort gewesen, auch um zu sinnieren und zu texten, wie sein 1969 verfasstes Lied „Der Hugenottenfriedhof“ mit dem einprägsamen Refrain: „Wie nah sind uns manche Tote, doch / Wie tot sind uns manche, die leben“. Oder aus „Gräber“: „Ich weiß es, die Toten leben / Und wolln, dass sie einer besucht / Wer kalt an den Kalten vorbeigeht / Der wird verhext und verflucht / – ich nicht! – meines Vaters Grabstein / Steht überall. Ich brauch / Sein Grab nicht lange suchen / Es ist so leicht zu finden / Dort, wo ein Schornstein raucht.“ Der Vater Wolf Biermanns, Dagobert, war KPD-Mitglied und wurde als jüdischer Häftling in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort am 22. Februar 1943 ermordet.

Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im drunter+drüber-Magazin #21 „Familie und Tod” (Nov 2025).

Portraitfoto Holger Kulick

Über den Autor: Holger Kulick, Überlebenskünstler und Journalist bei der bpb sowie Autor philosophischer Kurzgeschichten. Lebt in Berlin und wandert seit dem Tod seines Sohnes Caspar oft über Friedhöfe. Und wundert sich, wieviel Lebensgeschichten dort wort- und lieblos abgelegt werden, ohne dass je jemand von ihnen erfährt. Dabei geht es doch dort um Leben & Tod und vielfältige Wege, damit umzugehen.

Foto: privat