„WEIHNACHTEN UND TOD” 17: Weihnachtsgeister

von Zoë Beck

Der Tod kam schon im August, erstmal, aber es ist ja immer diese Jahresendzeit, diese Weihnachtszeit, in der noch mal Bilanz gezogen und über das Jahr nachgedacht wird, also hatte sich der Tod schon vorausgreifend Raum für die Weihnachtszeit genommen. Offenbar reichte ihm dieser Raum nicht, er kam Anfang Dezember ein weiteres Mal. Im August war es der alte Kater, im Dezember die alte Katze. Ja, damit war zu rechnen, beide hatten Erkrankungen, die mit dem Alter eben so kommen. Nein, man ist nie wirklich darauf vorbereitet. Ein Lebensabschnitt ist jetzt vorbei, Routinen, Bindungen, Emotionen, alles muss sich neu sortieren. Ich weiß, das klingt groß. Die beiden waren eben sehr besonders, nicht nur für mich. 

Eine meiner Cousinen war kürzlich auf Madagaskar, und dort gibt es ganz interessante Primaten, und zwar nur dort. Lemuren wurden sie von Carl von Linné genannt, und diese Bezeichnung hat ungefähr die Bedeutung „Schattengeister der Verstorbenen“ oder „ruhelose Totengeister“ oder etwas in der Art. Ganz geheuer waren ihm die Tierchen offensichtlich nicht. Ich muss das noch irgendwo im Hinterkopf gehabt haben, als ich ziemlich zeitgleich mit ihrer Madagaskarreise durch seltsame Verstrickungen und gänzlich ungeplant einem kleinen Siam-Mix-Kater vorgestellt wurde. Die Fellzeichnung im Gesicht war es, die mich an einen Sifaka (Sifakas sind eine Lemurengattung) denken ließ. Er hatte auch sonst etwas von einem kleinen Gespenst. Das kleine Gespenst wollte zu mir, und es wollte seinen noch kleineren Bruder mitbringen, und so fand ich mich dann mit zwei winzigen Fellknäuel auf dem Heimweg. 

Und erfuhr, dass der Vater der beiden quasi eine Kopie meines verstorbenen Katers ist. Selbe Farbe, selbes Gesicht. Der kleine Gespensterbruder hat nicht nur sein Gesicht, er erinnert in allem, was er tut, an ihn. Als hätte das kleine Lemuren-Gespenst ihn mitgebracht und in zur Zeit noch weißes Fell gekleidet. 

Natürlich bilde ich mir das ein. Natürlich sehe ich Ähnlichkeiten, wo ich sie sehen will, und füge Dinge zusammen, damit sie eine Geschichte ergeben. Aber es hilft. Die Trauer ist noch frisch und tief, die beiden weißen Zwergengespenster sind kein Ersatz für die langjährigen Gefährten, aber bei aller Rationalität und Wissenschaftsgläubigkeit hat der Gedanke an einen nicht etwa ruhelosen, sondern vielmehr freundlichen Geist – in Madagaskar sieht man eher positiv auf die Lemuren und die Verbindung zu den Ahnen – etwas ungemein tröstliches. Es ist mein Weihnachtsmärchen in einem Jahr, in dem ich nicht damit gerechnet habe, ein Weihnachtsmärchen zu brauchen, abgesehen davon, dass ich Weihnachten hasse und es in diesem Jahr dann ganz besonders hassen wollte. Es hat etwas Versöhnliches zum Jahresende und zeigt einmal mehr, dass dann doch immer wieder der nächste Anfang um die Ecke kommt. Anders, unerwartet, begleitet von Trauer, nie frei von der Vergangenheit. Aber da ist er und will loslegen und lässt mich Weihnachten mindestens ertragen. 

Über die Autorin: Zoë Beck, geboren 1975, schreibt, übersetzt und leitet zusammen mit Jan Karsten CulturBooks Verlag.

Studium der englischen und deutschen Literatur u.a. in Gießen, Bonn und Durham. Creative Producerin für internationale Fernsehfilmproduktionen bei KirchMedia. Redaktion für Synchronproduktionen (Disney Channel), anschließend bis heute als Dialogbuchautorin und Synchronregisseurin tätig. Seit 2004 freiberufliche Schriftstellerin und literarische Übersetzerin.

2010 Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte „Bester Kurzkrimi“.
2014 Krimipreis von Radio Bremen.
2016 Deutscher Krimipreis, National Platz 3, für „Schwarzblende“.
2018 Goldene Auguste
2020 Krimifuchs der Stadt Berlin
2020 Deutscher Krimipreis, National Platz 1, für „Paradise City“
2021 Politikkrimipreis der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg
2022 BücherFrau des Jahres
2024 H.-K. Zillmer-Verlegerpreis

„Das zerbrochene Fenster“, „Brixton Hill“, „Schwarzblende“, „Die Lieferantin“ und „Paradise City“ standen jeweils mehrere Monate auf der Krimibestenliste.
„Paradise City“ schaffte es zweimal in die SPIEGEL-Bestsellerliste und stand außerdem auf den Bestsellerlisten von FOCUS, stern und Börsenblatt.

Ihre Romane und Erzählungen wurden bisher in 13 Sprachen übersetzt.

Foto: Marlene Charlotte Limburg